RME Entwickler Marc Schettke und Produktspezialist Adrian Lehmann vom Bereich Artists Relations standen Professional Audio im Zuge des Testberichts zum 12Mic für ein Interview zur Verfügung. Das geplante Treffen in Berlin musste Corona-bedingt leider kurzfristig abgesagt werden. Im Zuge einer Skype Session teilten die beiden trotzdem viele Einblicke zum Thema AVB-Audio-Netzwerk – einer Schnittstelle mit der eine Vielzahl neuer RME Geräte ausgestattet sind.
Von Raphael Tschernuth
Lieber Marc, lieber Adrian, danke für eure Zeit. Gebt uns doch zu Anfang bitte einen kurzen Blick hinter die Kulissen bei RME. Wie groß ist euer Team, wenn ihr neue Geräte wie den 12Mic entwickelt?
Marc: Das ist eigentlich recht überschaubar. Beim 12Mic waren zwei Personen für die Software auf dem Gerät, ein Entwickler für den FPGA Kern, einer für das Web-Interface und einer für Mechanik und Tests zuständig, wobei sich die Arbeitsbereiche immer auch überschneiden. In diesem Team haben wir aber nicht nur den 12Mic entwickelt, sondern zeitgleich auch am AVB-Tool, M-1610 Pro und der M-32 Pro-Serie gearbeitet.
Beeindruckend wie man mit einem recht überschaubaren Team so viele doch sehr komplexe Geräte zur Marktreife bringen kann. Inwiefern ist da die aktuelle Pandemie ein Problem für euch?
Adrian: Bei RME hat sich in den letzten Jahren ganz von selbst eine dezentrale Arbeitsweise entwickelt. Unsere Entwickler sind in ganz Deutschand verteilt. Marc sitzt beispielsweise in Hamburg, ich arbeite von Lübeck aus – das hat sich schon lange vor Corona sehr gut eingespielt. Ich glaube das ist eine unserer Stärken, dass wir die Entwickler einfach Entwickler sein lassen. Wir haben auch Deutschlandweit verschiedene Fertigungsstandorte und einen Vertrieb in München. Wir sind quasi einzeln oder in kleinen Teams über das ganze Land verteilt und das hilft uns auch in Zeiten von Corona.
Das Tonstudio der Zukunft – welche Rolle spielt das AVB-Audio-Netzwerk für euch bei RME?
Adrian: Eine große Rolle. RME ist bekannt dafür, eine Vielzahl von Schnittstellen gleichzeitig zu unterstützen, um damit ein Höchstmaß an Flexibilität zu erreichen. In der Vergangenheit waren es primär Standards wie MADI, AES und ADAT, mit denen Studio- und Livesendungen realisiert wurden. AVB bietet Musikern und Studios durch die Netzwerkarchitektur eine dezentralere Arbeitsweise und eröffnet enorme Potenziale für die Zukunft. Besonders die Möglichkeit, komplette Gebäudekomplexe über Netzwerk zu verbinden und jedem Studio dadurch alle Audiokanäle gleichzeitig zur Verfügung zu stellen, wird neue interaktive Workflows ermöglichen. Und das alles über ein simples Ethernetkabel!
Marc: Ethernetbasierte Audionetzwerke haben in den vergangenen Jahren immens an Bedeutung und Popularität gewonnen. Da Ethernet bei seiner Entwicklung nie als Übertragungstechnologie für Echtzeitdaten gedacht war, muss bei sogenannten Layer-3-basierten Systemen die Echtzeitfähigkeit nachgerüstet werden. Das geht aber nur bis zu einem bestimmten Punkt und irgendwann fangen die Kompromisse an. Einer davon ist beispielsweise, dass die Netzwerke hinsichtlich der Bandbreitenverteiung provisioniert werden müssen, was letztlich bedeutet, dass jeder Switch einzeln konfiguriert werden muss.
Die Arbeitsgruppe hinter AVB ist einen anderen Weg gegangen und hat überlegt, wie tief ins Fundament eingegriffen werden muss, um die bestehenden Standards und damit Ethernet wirklich echtzeitfähig zu machen. Daraus ist das Set an Technologien entstanden, worauf AVB und Milan heute aufbauen: Traffic Shaping, Bandbreitenreservierung und eine sehr präzise Netzwerkuhr. Sowohl bei AVB (IEEE 802.1BA, 802.1Q und 802.1AS) als auch bei Milan handelt es sich um offene Standards, die von jedem ohne Lizenzgebühren implementiert werden können.
Diese Faktoren sind sehr wichtig für RME: Jahrelang haben wir uns auf MADI als Backbone für die Signalverteilung- und Übertragung in Multikanalanwendungen gestützt, ebenfalls ein offener Standard der AES (AES10). Wenn wir jetzt ein neues Backbone ins Visier nehmen, sollte auch das die bestmögliche technische Grundlage bieten. Und wie bei MADI wollen wir den Technologie-Stack selbst entwickeln, um unseren Nutzern die Zuverlässigkeit garantieren zu können und auch Verbesserungen zeitnah einpflegen zu können. Das geht bei lizenzierten Lösungen oder zugekauften Modulen nicht.
Zielt ihr mit euren AVB-Produkten ausschließlich auf große Studios und Live-Anwendungen ab oder bietet AVB auch Vorteile im Proberaum oder für Leute die in ihren eigenen vier Wänden aufnehmen?

Durch das lüfterlose Design kann der 12Mic im Aufnahmeraum platziert und per Netzwerk gesteuert werden. Foto: Adrian Lehmann
Adrian: Ich denke diese klassischen Unterscheidungen sind heutzutage schwierig vorzunehmen. In den vergangenen Jahren konnten wir einen deutlichen Wandel bei Musikern beobachten. Durch die zunehmende Renaissance von analogen Geräten stieg nicht nur der Bedarf an hochwertiger Wandlung, sondern gleichzeitig auch die Anzahl der benötigten Kanäle. Mittlerweile ist es nicht unüblich auch in kleinen Studios oder bei Hobbymusikern MADI vorzufinden, welches über ein einziges Kabel 64 Kanäle ermöglicht. Fakt ist: Wer ein stabiles Audionetzwerk errichten möchte, um damit viele Kanäle mit hervorragender Latenz zu verteilen, ist bei AVB an der richtigen Adresse.
Marc: Richtig interessant werden Audionetzwerke erst ab einer bestimmten Größe. Da AVB/Milan aber hervorragend skaliert, ist es überhaupt kein Problem mit zwei Geräten zu beginnen und dann nach und nach aufzurüsten. Häufig ist nicht mal ein Switch notwendig. Dann kann man günstiges Cat 5-Kabel als Multicore verwenden, um vom Aufnahme- in den Regieraum zu kommen. Wenn es dann größer wird, kann man Geräte und Switches erweitern.
Könnt ihr kurz die Unterschiede zwischen MADI und AVB für den Anwender beschreiben?
Marc: MADI ist eine digitale Punkt-zu-Punkt Schnittstelle. Will man also mehrere Geräte verbinden, muss man entweder eine Daisy Chain bauen oder braucht einen MADI-Router. Außerdem ist die Bandbreite auf 64 Kanäle bei 48 kHz begrenzt. Die Übertragung von Steuerdaten ist nicht vorgesehen, wurde aber von uns und anderen Herstellern über MIDI over MADI nachgerüstet.
AVB hingegen ist eine Technologie zum Aufbau eines Audionetzwerkes, das heißt alle Endpoints werden über Switches miteinander verbunden und jedes Audiosignal steht dann jedem Gerät zur Verfügung. Die Bandbreite des Systems ist nur durch die unterliegende Infrastruktur begrenzt, bei 1 Gbit/s können bis zu 576 Kanäle je Richtung bei 48 KHz über ein Netzwerkkabel übertragen werden. Dann stehen aber noch 25 Prozent der Bandbreite für andere Anwendungen zur Verfügung, zum Beispiel für Steuerdaten, für die Datenübertragung von der DAW zum Server, zum Youtube schauen und so weiter. Im Gegensatz zu MIDI over MADI ist das Steuerprotokoll standardisiert (IEEE 1722.1, AVDECC), so dass Geräte herstellerübergreifend miteinander verbunden und kontrolliert werden können.
ADAT scheint auch nicht totzukriegen zu sein, oder?
Adrian: Warum auch? ADAT bietet einem acht Kanäle bei 24Bit/48kHz. Es ist äußerst günstig zu implementieren, läuft sehr stabil und ist deswegen in den meisten Geräten vorhanden. Mir hat ADAT oftmals schon eine Session gerettet – ich hoffe sogar, es setzt sich noch mehr durch.
Marc: Der Reiz liegt im Einfachen: Ein günstiges Toslink-Kabel überträgt acht Kanäle bei 48 KHz über mehrere Meter. Das Protokoll ist uralt, deswegen hat quasi jeder Hersteller eine gut funktionierende Implementierung in der Schublade und kann Geräte damit ausstatten.
Welche Vorteile gibt es bei AVB im Vergleich zu Thunderbolt oder USB?

Das AVB Tool ist Netzwerk Schaltzentrale mit 128 Kanälen, bietet aber auch vier hervorragende Preamps mit 75 dB Gain bzw. Line / Hi-Z Eingänge an der Vorderseite. Foto: Adrian Lehmann
Marc: Das lässt sich nicht vergleichen. Thunderbolt und USB sind Schnittstellen, um Geräte an einen Computer anzubinden. In Audionetzwerken werden Interfaces, Wandler, Konsolen miteinander vernetzt. Ob dann die DAW im letzten Schritt über Thunderbolt, USB oder PCIe angebunden ist, ist unerheblich, solange die gewünschten Eigenschaften erfüllt sind. Natürlich kann man den Computer auch direkt ans Netzwerk anschließen, das setzt dann entweder eine Virtual Soundcard oder native Unterstützung des Standards durch das Betriebssystem voraus. Aber dann agiert die Software beziehungsweise der Softwarestack im Betriebssystem de facto als Interface. Auch da muss überprüft werden, ob die gewünschte Kanalzahl, Latenz, Hardware- und Treiberunterstützung gegeben ist.
Welche Nachteile gibt es bei AVB im Moment noch?
Marc: Digitale Punkt-zu-Punkt-Schnittstellen wie MADI, ADAT, AES3 und so weiter sind wirklich simpel: Man verbindet zwei Geräte über ein Kabel, stellt sicher, dass beide einheitlich geclocked sind und schon funktioniert es. Auch unter der Haube ist das so. Die Nutzdaten werden kontinuierlich und synchron übertragen, der Empfänger stellt sich also auf das zeitliche Raster vom Sender ein, wenn man so will. Die Latenz im Übertragungsweg ist fix, man kann sich darauf verlassen, dass die Daten immer gleich lang brauchen, um vom Sender zum Empfänger zu kommen. Daraus lässt sich dann auch das Taktsignal regenerieren oder man verwendet ein externes Wordclocksignal, was ein simples Rechteck im Kilohertz-Bereich ist.
Ethernetbasierte Audionetzwerke sind deutlich komplexer. Selbst auf der Leitung hat man bei Gigabit-Ethernet bereits kein simples Rechteck, also Nullen und Einsen mehr, sondern mehrere Pegelstufen, die aufwändig kodiert und dekodiert werden müssen. Bis dann aber darüber Audiodaten übertragen werden, liegen noch mal etliche Ebenen dazwischen, in denen das Audiosignal unter anderem in Pakete zerlegt und wieder zusammengefügt werden muss ohne die zeitliche Zuordnung zu verlieren.
Auch aus Nutzersicht ist das Ganze viel komplexer: Es reicht nicht, das Netzwerkkabel zu stecken, weil es nicht an das Audiosignal gekoppelt ist. Vielmehr muss man das Routing virtuell einrichten. Das macht natürlich auch die Fehlersuche komplizierter, weil man nicht mal eben Kabel umstecken kann, um zu schauen, ob dann Signal aus dem Lautsprecher kommt.
Hinzukommt ein ganzer Schwung neuer Konzepte und Begrifflichkeiten, die der Nutzer erst einmal lernen muss. Schließlich hat aber AVB/Milan noch den Vorteil, herstellerübergreifend zu funktionieren. Das bedeutet aber auch, dass es nicht den einen Controller gibt, mit dem man das Netzwerk steuern kann. Neben diversen herstellereigenen Implementierungen gibt es aber das vielversprechende Open Source Projekt „Hive“, sodass ich guter Dinge bin, dass wir diesen Punkt mittelfristig in den Griff bekommen.
Für manche Anwender ist Total-Mix schon ein wenig komplex. Für das Netzwerkrouting muss man zudem auf Web Remote Control zurückgreifen. Wird das Handling für den Anwender in Zukunft etwas einfacher und zentralisiert?
Marc: Wie bereits angesprochen funktioniert AVB/Milan herstellerübergreifend. Obwohl das Steuerprotokoll standardisiert ist, kann jeder seine eigene Oberfläche dazu entwickeln. Das ist ein großer Vorteil, weil ja beispielsweise ein Live-Event andere Anforderungen an das System hat als ein Projektstudio oder ein Rundfunkhaus. Ich hoffe, dass wir in Zukunft mehr solcher anwendungsspezifischen Controller-Programme sehen. Bis dahin stellt der RME AVB-Controller erst einmal die Grundfunktionen bereit und kann dann vom Nutzer ersetzt werden. Bei TotalMix darf man nicht vergessen, dass es nie mit dem Ziel entwickelt worden ist, ein Controller für Audionetzwerke zu sein. Diese Funktionalität jetzt nachzurüsten wäre deutlich aufwändiger, als sich von vorne herein zu überlegen, wie so ein Programm für das Netzwerk denn aussehen müsste.
Adrian: Zugegeben, TotalMix ist für viele zunächst sehr komplex und erschließt sich manchen Benutzern erst nach längerer Eingewöhnung. Hat man allerdings diese Lernkurve überwunden, suchen die Flexibilität und Skalierbarkeit ihresgleichen. Es lassen sich buchstäblich alle Routings und Anwendungen abbilden, die im Studioalltag auftreten. Und da TotalMix auf allen unseren Geräten zum Einsatz kommt, kann bedenkenlos zwischen jedem Interface gewechselt werden. Das ist ein riesiger Vorteil! Auf unserem YouTube-Kanal findet man mittlerweile viele Videos die verschieden Anwendungsszenarios im Zusammenspiel mit TotalMix beleuchten und einfach erklären.
Danke für eure Zeit und alles Gute für die netzwerkbasierte Zukunft!

Mit vielen Produktneuheiten wurde in diesem Jahr die AVB-Netzwerk Familie von RME deutlich erweitert.
Mehr Info:
www.rme-audio.de/
www.youtube.com/user/RMEAudio