Idealismus?
Aufwendige Produktion? Eine Untertreibung: Stephen Emmers Album „International Blue“, von David-Bowie-Produzent Tony Visconti produziert, entstand unter anderem in den Londoner Abbey Road- und in den New Yorker Avatar-Studios. Das Album bietet komplexe Arrangements mit Gastsängern wie Julian Lennon und Midge Ure. Komponist Emmer arbeitet im Medienbereich. Ganz Idealist, hat er die Produktion komplett selbst finanziert.
Von Nicolay Ketterer; Fotos von Stephen Emmer
Das Lamento ist schnell formuliert: In Zeiten von Plug-in-Software, Notebook-Recording und „No-Budget“-Produktionen kennen Künstler und Produzenten legendäre Studios und das Equipment, auf das die Software-Simulationen referenzieren, oft nur vom Hörensagen. Die Demokratisierung der Musikproduktion, dank der mit geringen finanziellen Mitteln verhältnismäßig gute Produktionsmöglichkeiten offenstehen, bedeutet umgekehrt, dass sich nur noch wenige Künstler die verbliebenen großen, professionellen Studios leisten können oder wollen. Als Konsequenz unterliegen Produktionen mitunter einer klaren Kosten-Nutzen-Rechnung, die brauchbare Ergebnisse über das Streben nach klanglichen Idealen stellt.
Da ist es beruhigend, dass Idealisten nicht aussterben – auch solche, die von vornherein wissen, dass sie ihre Investition wahrscheinlich nie wiedersehen, denen aber die Realisierung eines langgehegten Traums in einer ganz bestimmten Schaffensumgebung Grund und Erfüllung genug ist.
Komponist Stephen Emmer gehört zu dieser Spezies. Der 58-Jährige Niederländer hat Anfang der 1980er Jahre in der New-Wave-Szene-Band Minny Pops mitgewirkt und 1982 ein eigenes Album („Vogue Estate“) veröffentlicht – der kommerzielle Erfolg blieb allerdings aus. Emmer arbeitete fortan als Komponist im Medienbereich, etwa für nationale Film- und Fernsehproduktionen. 2008 folgte ein neues Album: komplexe, orchestrale Arrangements, dazu von namhaften Gästen – etwa Lou Reed – gesprochene Texte, produziert von David-Bowie-Produzent Tony Visconti. Mittlerweile hat Emmer mit „International Blue“ ein weiteres Album veröffentlicht, auf dem der Komponist dem „Crooner“-Gesangsstil von Frank Sinatra, David Bowie oder Scott Walker huldigt, also Songs, die mit ihren opulenten Arrangements und Orchesterklängen an James-Bond-Soundtracks erinnern. Den Gesangs-Part übernahmen wechselnde Sänger – dieses Mal unter anderem Julian Lennon und Midge Ure. Produziert hat das Werk erneut Visconti. Gleich zwei große Studios dienten der Abmischung, Abbey Road in London und Avatar – das ehemalige „Power Station“-Studio – in New York. Uns interessierte der Blick hinter die Kulissen und die Frage: Wer soll das bezahlen?
? Eine Produktion, die sich jeglicher Kosten-Nutzen-Rechnung entzieht, dazu noch logistisch aufwendig ist, klingt nach einem idealistischen Projekt. Der Aufwand erinnert an vergangene Zeitalter der Musikproduktion. Was war Deine Motivation, für die Produktion in das Abbey Road- und das Avatar-Studio zu gehen?
! Zunächst haben wir uns mit klassischen „Crooner“-Pop-Songs beschäftigt – Musik von David Bowie, Scott Walker oder Frank Sinatra. Dabei fiel uns neben der zeitlosen künstlerischen Qualität auch die zeitlose Klangqualität auf. Wir wollten den „klassischen Studio-Sound“ mit Plug-ins und virtueller Technik simulieren, aber auch testen, ob zwischen den Plug-ins und der alten Technik ein relevanter Unterschied besteht. Wäre eine „Echo Chamber“ – die physische Hallkammer – eines bewährten Studios eine ästhetische Verbesserung gegenüber Hall-Plug-ins? Zusammen mit meinem Assistenten habe ich beim ersten Besuch in der Abbey Road ein paar Demos durch den Hallraum im Studio Two gejagt und das Ergebnis mit der UAD EMT-140 Plate-Simulation verglichen. Am Ende gefiel uns das akustische Ergebnis besser als das virtuelle.
? Das klingt nach einem „Äpfel mit Birnen“-Vergleich. Habt ihr auch Technik direkt mit dem virtuellen Pendant verglichen?
! Ja, bei den Equalizern. Auf den Demos hatten wir UAD-Neve- und Pultec-Emulationen eingesetzt. Wir haben die entsprechenden Einstellungen der Plug-ins an den Originalgeräten ausprobiert, um bei gleichem Eingangssignal zu sehen, was passieren würde. Auch dort hörten wir Unterschiede, das Ergebnis klang anders.
? Kritiker mögen einwerfen, dass durch die Toleranzen alter Geräte zwangsläufig Unterschiede im Plug-in-Vergleich auftreten können. Wie würdest Du die klanglich „zeitlose Qualität“, die ihr wahrgenommen habt, charakterisieren?
! Ich würde es eher als „subjektive Präferenz“ bezeichnen, das erscheint mir realistischer. Wenn man den Vinyl-Trend betrachtet – technisch bieten Schallplatten nur eingeschränkte Spezifikationen, was etwa Frequenzgang und Rauschabstand betrifft. Leute, die Vinyl bevorzugen, tun das aufgrund einer subjektiven Geschmacksempfindung. Das gilt meiner Meinung nach auch für den Sound der großen alten Studios: Den Klang habe ich durch alte Aufnahmen schätzen gelernt. Das gleiche gilt auch auf technischer Ebene, zum Beispiel bei den alten Neumann-Mikrofonen, die wir ebenfalls benutzt haben und die seit den 1960er Jahren zum Inventar der Abbey Road Studios gehören. Die Frage ist, ob wir einen Sound mögen – nicht, ob er technisch „besser“ klingt. Der Grundgedanke beim „International Blue“-Album war, zu schauen, ob dieses Album nicht nur heute, sondern auch in zehn Jahren noch gut klingen könnte.
„Der Grundgedanke bei ‚International Blue‘ war, zu schauen, ob dieses Album auch in zehn Jahren noch gut klingen könnte.“
? Ihr habt in den Abbey-Road- und Avatar-Studios abgemischt. Was das Recording angeht: Habt Ihr die großen Aufnahmeräume dort auch verwendet, etwa für die Orchesterspuren – oder entstammen die Samples?
! Teilweise haben wir zu Hause aufgenommen, einen Teil in anderen Studios und einen Teil im Abbey Road bzw. Avatar. Wir haben mit Sängern und Musikern in Amsterdam, wo ich wohne, aber auch in Bristol, Hilversum, New York, Los Angeles und Canberra in Australien aufgenommen. Im Abbey Road habe ich einen Großteil der Piano-Spuren eingespielt. Midge Ure von Ultravox hat seine Gesangsspur in einem Hotelzimmer in Deutschland auf dem Notebook aufgenommen. Es war ungewöhnlich, so zu arbeiten und jede Menge Dateien über den Daten-Austausch-Dienst WeTransfer durch die Gegend zu schicken. Als gemeinsamen Standard haben wir 48 kHz/24-Bit-Auflösung verwendet – manche haben mit Apple Logic gearbeitet, das Projekt wurde jedoch in Avid Pro Tools arrangiert.
„Als typischer Freak wollte ich tief in mir drin, dass mir die „Sgt.-Pepper“-Bandmaschine besser gefallen würde zum Abmischen, aber das Gegenteil war der Fall.“
? Wie waren die teilweise komplex anmutenden Arrangements aufgebaut?
! Wir hatten ein Streichquartett, das wir insgesamt drei Mal aufgenommen haben, als Overdub, um nach mehr zu klingen. Später meinte Tony Visconti, dass Ergebnis klinge zu „organisch“ – ein New Yorker Ausdruck dafür, dass es zu klein klingt. Er schlug vor, das Orchester mit Streicher-Samples zu unterlegen. Als Ergänzung dienten reichlich Spitfire-Audio-Samples, was gut gepasst hat. Für manche der Songs haben wir eine Bläsersektion aufgenommen, auch die Flügel wurden akustisch aufgenommen, einige der Upright- oder „Honky Tonk“-Pianos waren wiederum Samples. Gitarren, die ich gespielt habe, wurden größtenteils über die Universal Audio „Apollo“-Interfaces aufgenommen. Manche davon haben wir in einem Amsterdamer Studio mit großem Aufnahmeraum über einen alten Fender „Twin Reverb“ re-amped, um etwa Bariton-Gitarren die gewünschte Lebendigkeit zu verleihen. Das Projekt ist ein Hybrid – analog, digital, Software, virtuelle, aber auch echte Instrumente. Musikalisch gesehen etwas Nostalgie, moderne, „normale“ Musik, aber auch Sounddesign, zum Beispiel Hiphop-Beats im Stil der 1990er Jahre. In der DAW haben wir größtenteils UAD Plug-ins verwendet, die sowohl Tony Visconti als auch ich sehr schätzen. Deren „Ocean Way Studios“-Raumsimulations-Plug-in kam oft zum Einsatz – für eine der Konzertgitarren funktionierte das klasse. Die haben wir vorher im Avatar-Aufnahmeraum verglichen. Was ich sagen will: Manchmal passte die künstliche Variante besser. Wir versuchten nicht zu voreingenommen sein, sondern entschieden, was für die Aufgabe am besten passt. Ein anderes Beispiel: Im Abbey Road „Studio Two“ fragte mich Tony Visconti, ob ich die Mischung lieber für die Färbung auf analoges Zweispur-Band oder direkt in den Rechner ausspielen wollte. Die Maschine war eine der ursprünglichen Master-Maschinen der Beatles-Sessions zu „Sgt. Pepper“. Als typischer Freak wollte ich tief in mir drin, dass mir die Tape-Version besser gefiel, aber das Gegenteil war der Fall, die klangliche Definition war weniger klar. Das gilt übrigens auch für „jüngere Ohren“– dort gilt der leicht „matschige“ Tape-Sound nicht unbedingt als cool.
? Die Arrangements sind sehr dicht – welche Probleme traten dabei während der Produktion auf?
! Die Demos klangen seinerzeit mehr nach Phil Spector: Alle Instrumente waren gedoppelt, im Bass- und Höhenbereich. Tony hat dann „aufgeräumt“. Er meinte, 80 bis 100 Spuren sind zu viel. Wir mussten Entscheidungen fällen. Ich bin eher ein Phil-Spector- bzw. Wagner-typischer Komponist, was das Arrangement angeht: Je mehr Instrumente, desto besser. Aber wenn ich mir andere Musik anhöre, beispielsweise Folk: Da höre ich nur zwei Gitarren und eine Stimme, und das finde ich auch gut!
? Woran hat sich Visconti beim „Eindampfen“ des Arrangements orientiert?
Die Doppelung von Instrumenten im Bassbereich ist ihm beispielsweise fremd: Nimm einen Kontrabass und einen Fender E-Bass, die dasselbe spielen: Wenn die nicht exakt das gleiche Timing oder die exakt gleiche Tonhöhe haben, ist das seiner Meinung nach schlechter für das Ergebnis, als wenn eine Trompete und eine Gitarre eine hohe Note nicht exakt unisono spielen.
? Du hast das Projekt komplett selbst finanziert. Vermutlich hätte – gerade heute – keine Plattenfirma der Welt für ein „Nischen-Album“ eine Produktion dieser Größenordnung finanzieren wollen…
! (lacht) Sicherlich nicht! Das ist ein Nischen-Album, ein Herzensprojekt. Mein Geld verdiene ich mit „Medienmusik“. Seit ein paar Jahren bin ich musikalischer Direktor der „Holiday On Ice“-Produktion – die Show wird international aufgeführt, ich komponiere, arrangiere und produziere die Musik für die Tourneen, dadurch habe ich das Album finanziert. Ich bin froh, keine Plattenfirmen um einen Gefallen bitten zu müssen, den ich sowieso nicht bekommen würde. Ich bin sozusagen mein eigenes Geschäftsmodell und niemandem Rechenschaft schuldig.
? Was hat Dich das Album samt allen Studios und Musikern gekostet?
! Insgesamt rund 110.000 Euro. Den größten Anteil hatten die Musiker – die Orchester, Streicher, Sänger, die logistischen Nebenkosten. Die Miete der großen Studios lag grob beim Preis eines besseren Autos. Ich selbst habe kein Auto mehr – die Platte ist mein Auto! Das ist die größte Befriedigung in meinem Leben. Ich denke bereits über das nächste Projekt nach.
! Was Deinen Beruf betrifft: Wie sieht das Anforderungsprofil für einen musikalischen Direktor einer größeren Show aus?
? Du musst Dich in vielen unterschiedlichen Stilen und Genres auskennen, sowohl im Bereich Pop als auch in der Klassik. Es muss Dir möglich sein, die Stilistiken in den Soundtrack einer Show-Produktion einfließen zu lassen – so, dass es zur Storyline und zum Konzept passt. Dazu muss es Dir gelingen, in den rhythmischen Gegebenheiten zu denken, und damit umzugehen, was Dir Regisseur oder Choreograf rhythmisch vorgeben. Passende Lösungen werden von Dir erwartet, nicht von den anderen. Letztlich musst Du auch die gesamte Musikproduktion managen, beaufsichtigen und alle organisatorischen Aspekte koordinieren – Musiker buchen, Sänger, Studios, Tontechniker, Texter usw.. Zusätzlich zum kreativen Aspekt zählt, unter großem Druck arbeiten zu können und auch mit kurzfristigen Änderungen in der Produktion umgehen zu können.
? Lass uns mal über Dein Vorgängeralbum „Recitement“ sprechen. Wie kam der Kontakt zu Tony Visconti und den Gastsängern ursprünglich zustande?
! Vor sechs Jahren bekam ich einen Anruf aus New York. Der Anrufer meinte: „Ich repräsentiere einen Produzenten, der Ihre Demos auf MySpace gehört hat“. Damals war das Portal noch frequentiert. Offensichtlich hatte der Produzent seinen Manager gebeten, mich anzurufen und mir mitzuteilen, dass ihm meine Demos gefielen. Ich fragte, wer sein Klient sei. „Der Produzent heißt Tony Visconti, vielleicht haben Sie schon mal von ihm gehört.“ Ich antwortete, dass ich mir eine derartige Zusammenarbeit nicht leisten könne. Der Manager meinte daraufhin: „Sie verstehen vielleicht, dass Mr. Visconti nicht mehr des Geldes wegen im Musikgeschäft arbeitet. Er lädt Sie ein.“ Es kostete mich also nicht viel, abgesehen vom Flug-Ticket, dem Hotel und einem Anteil der Studiomiete, aber Tony verzichtete auf Honorar. Er mochte das Projekt, glaubte an den künstlerischen Wert. Er nimmt auch von zahlenden Kunden nur noch wenige Projekte an. Ich hatte einfach Glück.
? Lou Reed, der auf „Recitement“ zu Gast war, kam vermutlich über Visconti an Bord?
! Absolut. Ich meinte zu Tony: „Mir fehlt noch eine passende Gesangsstimme für diesen Song. Würdest Du singen wollen?“ Tony meinte, das wäre nichts für ihn, aber er schreibe einem alten Freund. Er hat mir nicht gesagt, wem. Am nächsten Tag meinte Tony, der Freund habe zugesagt, es sei übrigens Lou Reed. Ich war von den Socken. Anerkennung von den eigenen alten Helden zu bekommen, war sehr wertvoll. Ich brauche ohnehin nicht mit One Direction in den Charts zu konkurrieren. Spaß und Erfüllung lagen im Prozess – sozusagen eine buddhistische Haltung.
? Auf „Recitement“ hast Du gesprochene Texte für die Musik verwendet. Wie unterscheiden sich musikalische Arrangements für gesprochene Texte von denen mit normalem Gesang?
! Durch die Musik für Filme bzw. Fernsehproduktionen – oder die „Holiday On Ice“-Show – habe ich gelernt, auf einen Zeitablauf, eine Choreografie oder Animation hin zu arbeiten. Als „Medienkomponist“ geht es darum, synchrone Akzente zum Bild zu setzen, die beiden Disziplinen zu synchronisieren. Bei dem Spoken-Word-Projekt habe ich zunächst den Rhythmus der Spoken-Word-Performances mit Rap-Musik verglichen. Bei Rap ist es genau andersherum: Zuerst kommen die Beats, dazu fängt jemand zu rappen an. Die Spoken-Word-Aufnahmen habe ich in Timing übersetzt, zum Beispiel bei einer alten Richard-Burton-Aufnahme, die für einen Track diente. Ich habe seinen Rhythmus am Metronom durch manuelles Tappen bestimmt, er lag ungefähr bei 83 BPM. Danach erstellte ich eine Rhythmusspur: Wenn er schneller wurde oder modulierte, dann modulierte ich die Musik – wenn die Spoken-Word-Leute ihre Stimme modulierten, leicht höher sprachen, begann ich, mit dem Keyboard die Tonhöhe parallel zu modulieren, als Unterstützung. Ein weiteres Element war das harmonische Intervall. Bei früher Rap-Musik liegt zwischen Stimme und Basslinie oft ein Quint-Intervall. Das habe ich mir vom Rap „ausgeborgt“. Ich habe also das Tempo getappt und bin mit den Harmonien eine Quinte unterhalb die Stimme gegangen und dachte: „Hey, das ist eigentlich Rap 2.0!“ Anfangs waren die Spoken-Word-Performances zuerst da. Bei Lou Reed habe ich die Musik auf einer Originalaufnahme des Schauspielers William Hurt aufgebaut. Das war die „Demo-Gesangsspur“, Lou Reed hat das Gedicht danach in seiner eigenen Interpretation rezitiert.
? Was „International Blue“ angeht, hattest Du keine Angst, dass durch die unterschiedlichen Sänger der rote Faden verlorengeht?
! Mein Ziel bestand darin, zu zeigen, dass man ein Genre, also einen speziellen Kompositions- oder Produktions-Sound, mit verschiedenen Künstlern präsentieren könnte. In gewisser Weise sehe ich mich mehr als Komponist denn als Musiker. Wenn ich vier Stunden am Klavier spiele, bin ich von dem Klaviersound alleine ziemlich gelangweilt. Ich brauche also Abwechslung. Das gleiche gilt bei Sängern – ein ganzes Album nur Nick Cave wäre mir zu monoton. (lacht)
? Gemessen am Konzept eines „Komponistenalbums“ fand ich es ungewöhnlich und mutig, den Gesang stark in den Vordergrund zu mischen, wodurch die Musik in den Hintergrund rückt.
! Danke, ich muss allerdings gestehen, dass ich das Ergebnis mehr ineinander verlaufen lassen wollte, aber Visconti erzählte mir vom „goldenen Dreieck“: An der Spitze steht der Gesang, in der Mitte die Musik und am Boden gehe es darum, die Bassdrum auf den Grundton des Gesangs zu stimmen. Letztes hat Visconti immer gemacht, ob bei „Nights In White Satin“ von den Moody Blues oder „Heroes“ von David Bowie. Er glaubt daran, dass dadurch eine transparentere Mischung entsteht. Besonders tiefe männliche Gesangsstimmen würden teilweise mit der Bassdrum ins Gehege kommen, wenn die deutlich in einer anderen Tonart gestimmt ist, besonders bei Trommeln mit ausgeprägtem Resonanzton und langem Sustain. Bei unterschiedlicher tonaler Stimmung entsteht Disharmonie, was den Mix weniger durchsichtig macht. Sein Argument: Wenn das Ergebnis transparenter ist, weil Gesangstonhöhe und Bassdrum miteinander korrelieren, ist die Abmischung unproblematischer. Um auf das „goldene Dreieck“ zurückzukommen: Alle drei Elemente zusammen ergeben für ihn eine Balance, die „aufrechte Klangpyramide“, wie er es nennt. Ich meinte, „Ok, mag sein, ich bin aber immer noch nicht sicher, ob der Gesang über allem stehen sollte.“ Er spielte mir seine Vorstellung vor – das Ergebnis hat mich überzeugt, denn das Thema war ja „Pop Crooning“. Der David Bowie Song „Where Are We Now?“, den er zur gleichen Zeit gemischt hat, ist ähnlich aufgebaut. Ich entstamme musikalisch der New Wave-Zeit der 1980er Jahre, wo der Gesang immer in der Musik „vergraben“ war, beispielsweise bei Joy Division. Man konnte den Text nicht verstehen – ich mochte das. Tony hat mich vom Gegenteil überzeugt. Vor dem Hintergrund der „zeitlosen Qualität“, dem Ziel, dass das Ergebnis in zehn oder 20 Jahren immer noch das Potenzial haben soll, gut zu klingen, ist das wahrscheinlich die bessere Balance.
? Bei einem Projekt mit derart vielen Studios, Protagonisten und Spuren – hattest Du jemals das Gefühl, die Übersicht zu verlieren?
! Einige Male! (lacht) Da war ich dankbar für meinen Assistenten, Laurens Kagenaar, der auch ein qualifizierter Tontechniker ist. Dank ihm waren wir sehr akribisch, was die Administration der Dateien betrifft. Das war bei dieser Datenmenge auch nötig!
? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man in einer Session Dateien mitunter spontan benennt – und kurze Zeit später nicht mehr weiß, was Abkürzungen bedeuten – oder man Informationen weglässt, von den man glaubt, sie nicht zu vergessen.
! Das Problem kenne ich von „Recitement“. Daraus haben wir gelernt. Bei „International Blue“ haben wir am ersten Tag entschieden, eindeutige, komplette Bezeichnungen festzulegen – für jede Spur, jeden Abschnitt, jede Session, alle Projekt-Files und Ordner. Bei größeren Zusammenarbeiten, die ja immer öfter über Ländergrenzen hinweg stattfinden, sollte man die Organisation der Dateien einer Produktion sehr ernst nehmen. Das muss man einmal durch Erfahrung lernen, um immer daran erinnert zu werden. (lacht)
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