“Niemand sollte sich eine bloße Tonfolge schützen lassen können”
Akkordfolgen sind in der Musik frei verwendbar, Melodien nicht: Der amerikanische Anwalt Damien Riehl will das ändern – schließlich sei es möglich, zufällig auf ein ähnliches Ergebnis zu kommen und gleiche Töne können in einem anderen Kontext völlig unterschiedlich wirken.
Riehl hat zusammen mit dem Programmierer Noah Rubin das Projekt „All The Music“ ins Leben gerufen – und rechnerisch bislang 200 Milliarden Melodien generiert. Das Ergebnis haben die beiden mit dem Verzicht auf Rechtsansprüche freigegeben.
Die westliche Tonleiter bietet nur zwölf unterschiedliche Töne pro Oktave – und trotzdem sind Abermillionen Melodien möglich. Wir alle stünden auf der vielzitierten „Schulter von Giganten“, so lässt sich die Argumentation des amerikanischen Anwalts Damien Riehl zusammenfassen: Demnach sollte keiner ein Anrecht auf ein Monopol für eine reine Tonfolge haben, unabhängig von der Gesamtgestaltung eines Stücks. Akkordfolgen sind aufgrund ihrer übersichtlichen Möglichkeiten frei verwendbar, für Tonfolgen gilt das nicht – was immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten führt. Dem wollte Damien Riehl mit dem Projekt „All The Music“, das er gemeinsam mit dem Programmierer Noah Rubin auf die Beine gestellt hat, ein Experiment entgegensetzen: Die beiden haben über Algorithmen mittlerweile 200 Milliarden Melodien generiert und jegliche Rechtsansprüche unter der „Creative Commons Zero“-Lizenz mit dem Verzicht auf Rechtsansprüche zur Nutzung freigegeben. Der Gedanke: Theoretisch könnte nun niemand mehr eine „neue Melodie“ für sich urheberrechtlich beanspruchen, weil sie bereits existiert – und jeder könnte die Melodien nutzen. Ob das rechtlich anerkannt wird, steht noch auf einem anderen Blatt: Riehl geht es vor allem darum, für Probleme beim Urheberrecht zu sensibilisieren – ein Gespräch.
? – Da es bei eurem Projekt darum geht, klarere Verhältnisse im Rechtssystem zu schaffen, lass uns zunächst kurz über die Ausgangslage sprechen. Warum wurdest Du ursprünglich Anwalt?
! – Ich war gerade dabei, mein Studium mit Schwerpunkt Musik abzuschließen. Für meine künftige Tätigkeit als Chorleiter dirigierte ich als studentische Lehrkraft gerade unseren Chor, sie sangen ein Stück von Brahms. Zwischen zwei meiner Chorsänger brach plötzlich eine Schlägerei aus, sie fingen an, sich mitten ins Gesicht zu boxen. Ich musste dazwischen gehen. Am Ende dachte ich mir, dass Lehrer eigentlich nicht dafür bezahlt werden, Faustkämpfe im Chor aufzulösen – speziell nicht bei eigentlich so beruhigender Musik wie der von Brahms (lacht). Ich entschied mich letztlich dafür, an einer juristischen Fakultät zu studieren. Die Idee dahinter: Ich wollte keine Faustkämpfe im Klassenzimmer befrieden, sondern stattdessen lieber rechtliche Kämpfe vor Gericht ausfechten (lacht). Momentan arbeite ich nicht aktiv als Anwalt, aber verfolge weiterhin Entwicklungen in der Technologie-Gesetzgebung, inklusive Urheberrechtsverletzungen.
? – 2019 hast Du gemeinsam mit dem Programmierer Noah Rubin das Projekt „All The Music“ ins Leben gerufen und über einen Algorithmus praktisch sämtliche möglichen Melodien generiert. Laut eurer Webseite verfolgt ihr damit vor allem rechtliche, aber auch um mathematische und philosophische Ziele. Du hast die Idee ursprünglich angestoßen, um aus Deiner Sicht mit ein paar Ungerechtigkeiten im Urheberrecht aufräumen zu können?
! – Richtig, tatsächlich geht es um eine generelle Ungerechtigkeit, die ich auch kürzlich in einem TEDx-Talk in Minneapolis erwähnt habe: Mir scheint, dadurch, dass die musikalische Ausbildung in den Vereinigten Staaten – und vielleicht auch weltweit – reduziert wurde, kennen sich weniger Menschen mit dem Grundkonzept aus, wie Musik funktioniert: mit Skalen und Harmonien und generell, wie Kompositionen entstehen. Aus dem Grund kennen bei einem Urheberrechtsprozess auch weniger Leute in der Jury – und weniger Richter – den Unterschied zwischen „ich habe dich kopiert“ und „ich habe unabsichtlich dieselbe Melodie verwendet“. Was ich mit diesem Projekt demonstrieren wollte: Den Menschen, die nicht im Bereich Musik trainiert sind, vor Augen zu führen, wie leicht es passieren kann, zufällig dieselbe Melodie wie jemand anders zu verwenden. Ursprünglich wollte ich einen Fachartikel für Anwälte und Richter schreiben, um über das Problem zu informieren. Dann kam das Angebot, einen TEDx-Talk zu halten – das hat natürlich das Publikum erweitert. Es ist nicht schwer, zufällig in einen Konflikt zu geraten, schließlich existieren nur zwölf Töne! Musiker wissen das, aber mir ging es darum, auch Laien – etwa in einer Jury und einen Richter – dafür zu sensibilisieren.
„Es ist nicht schwer, zufällig in einen Urheberrechtskonflikt zu geraten – schließlich existieren nur zwölf Töne!“
? – Als ein Beispiel für zufällig gleiche Melodien hast du den Fall von George Harrison angeführt, dessen 1973er Stück „My Sweet Lord“ mit seiner Melodie später als zufälliges Plagiat des 1962 von den Chiffons aufgenommenen Songs „He’s So Fine“ gewertet wurde.
Du hattest geschrieben, dass ein Musiker vor Gericht nicht beweisen könne, einen anderen Song nie vorher gehört zu haben – und damit eine ähnliche Idee gehabt zu haben, ohne zu plagiieren. Man würde immer davon ausgehen, dass derjenige das Stück vielleicht unterbewusst irgendwo im Bus mal gehört haben könnte …
! – Stimmt! Zu beweisen, dass du einen Song nie vorher gehört hast, ist aus philosophischer Sicht unmöglich. Philosophisch gesehen lässt sich eine Negation nicht beweisen. Auf der anderen Seite: Fast keine Gerichtsprozesse erfordern von jemandem, eine Negation zu beweisen. Vielmehr ist es umgekehrt: Verklagt eine Person eine andere, obliegt dem Kläger die Beweislast, dass der Beklagte die Straftat auch tatsächlich begangen hat. Es geht nicht darum, zuallererst die eigene Unschuld beweisen zu müssen. Was den George-Harrison-Fall angeht – dort wurde die Beweislast umgekehrt und dem Beklagten die Bürde auferlegt, wo sie nicht hingehört. Mein primäres Ziel bestand darin, die Beweislast wieder auf die Seite zu bringen, wo sie auch bei jedem anderen Gerichtsprozess liegt. Die Frage, die sich aufdrängt: Wie lässt sich das machen – zu beweisen, ob Person B einen Song von Person A gehört und kopiert hat? Es gibt jede Menge forensischer Beweise, die das ermöglichen: Falls die Person Musik auf Spotify hört, existieren dort Playlisten. Der Kläger könnte also anfordern, alle Songs einzusehen, die die Person auf Spotify in den letzten fünf Jahren gehört hat – oder alle YouTube-Videos, die in dem Zeitraum gesehen wurden. Während dem Prozess lässt sich also ein positiver Beweis erbringen, ohne dazu überzugehen, dass der Angeklagte die Negation beweisen muss.

Bei einem TEDx-Talk in Minneapolis präsentierte der Anwalt Damien Riehl sein Projekt „All The Music“ ausführlich – samt Erläuterung der seiner Meinung nach problematischen Urheberrechts-Gesetzgebung: www.youtube.com/watch?v=sJtm0MoOgiU (Screenshot TEDx-Vortrag/YouTube)
? – Was den Beweis der Negation angeht: So gesehen erinnert die Vorgehensweise – überspitzt formuliert – fast an Verschwörungstheorien, wo etwa das Fehlen eines Beweises als Beweis für die Theorie gilt …
! – Das ist genau der Punkt! In einem Kriminalfall besteht die Herausforderung des Staates darin, zu beweisen, dass der Angeklagte das Verbrechen begangen hat. Genauso ist es bei einem Zivilprozess – der Kläger muss den Beweis erbringen. So gesehen sind Urheberrechtsfälle genau wie alle anderen Fälle auch, der Vorsatz spielt eine Rolle, ob Person B den Urheberrechtsverstoß absichtlich begangen hat. Wenn wir beide auf einer Klippe stehen und du fällst herunter, macht es einen Unterschied, ob ich dich dabei versehentlich angerempelt oder bewusst gestoßen habe. Das Ergebnis ist dasselbe, aber der Vorsatz macht den Unterschied. Im Urheberrechtsfall: Hat Person B den Song absichtlich plagiiert oder schlicht zufällig einen Song geschrieben, ohne jemals von Person A gehört zu haben? Die Gleichheit ist nicht so ausschlaggebend wie der Vorsatz. Ich wollte versuchen, gleiche Bedingungen zu schaffen: Person A sollte, wie in jedem anderen Fall, Vorsatz nachweisen müssen.
? – Wie viele Milliarden Melodien habt ihr mittlerweile kreiert?
! – Zum Zeitpunkt des TEDx-Talks waren es 68 Milliarden, mit Notenfolgen aus zehn Noten. Seitdem haben wir viel mehr Datensätze prozessiert und stehen aktuell bei 200 Milliarden Melodien. Die Noten erstrecken sich über eine Oktave, mittlerweile haben wir auch eine Quint darüber und darunter hinzugenommen. Die Notenfolge aus den zehn Noten kannst Du als Viertel, Achtel, Halbe sehen – wie immer du magst. Wir haben mittlerweile auch Rhythmus in den MIDI-Files mit eingebunden sowie Stille als mögliche Note in den Generator mit eingebracht: Stille verändert aus MIDI-Sicht praktisch die Länge der vorangehenden Note.
? – Das stellt einen deiner zentralen Punkte dar; Rhythmik macht bislang keinen Unterschied im Urheberrecht. Das heißt, wenn du eine bereits vorhandene Melodie schreibst, deren Notenlängen sich komplett unterscheiden, wäre die trotzdem „einklagbar“ als Plagiat?
! – Richtig! Das Gesetz erfordert lediglich „substanzielle Ähnlichkeit“. Die Frage ist also, ob bei zwei Songs jenes substanzielle Maß an Ähnlichkeit vorliegt. Wie der Fall von George Harrison zeigte – obwohl der Rhythmus ein anderer war, lag substanzielle Ähnlichkeit vor. Auch wenn vielleicht ein, zwei oder fünf Töne der Melodie anders sind, liegt trotzdem die erwähnte Ähnlichkeit vor. Was „substanzielle Ähnlichkeit“ letztendlich konkret bedeutet, hängt von der jeweiligen Jury oder dem Richter ab. Es gibt keine konkrete Anzahl von Tönen. Bei Katy Perry, die für den Song „Dark Horse“ von dem Rapper Flame erfolgreich verklagt wurde, war die Tonhöhe der letzten Note tatsächlich eine andere.
„Was ‚substanzielle Ähnlichkeit‘ konkret bedeutet, hängt vom jeweiligen Gericht ab“
? – Das erinnert an Vanilla Ice, der bei „Ice Ice Baby“ behauptete, es handele sich nicht um ein Plagiat des Queen-Bassriffs von „Under Pressure“, da eine zusätzliche Note hinzugefügt wurde – ein Beispiel, das du auf der Seite ebenfalls erwähnst …
! – Exakt! Ändert das das Riff komplett? Nein, es ist immer noch „substanziell ähnlich“. Darin besteht die Schwierigkeit.
? – Abgesehen vom Rhythmus: Würde es einen Unterschied machen, wenn jemand die Begleitakkorde unterhalb einer Melodie komplett ändert?
! – Ich würde sagen, das macht keinen Unterschied. Du kannst dir zum Beispiel einen Cover-Song vorstellen – wenn du die Akkorde komplett änderst, aber die Melodie beibehältst, würde wohl niemand sagen, es sei kein Cover, nur aufgrund der geänderten Akkorde. Akkorde machen also keinen Unterschied. Was ich unbedingt für eine Jury und einen Richter darlegen möchte: Die Separierung der Komponente Melodie von Akkorden, Rhythmus, Lyrics, Instrumentierung, Arrangement ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn – all diese Komponenten kreieren die Gestalt eines Songs. Lediglich einen aus dem Kontext herauszupicken – wie die Melodie – ist lächerlich, da das nur ein Teil des Ganzen darstellt. Betrachtest du mehrere Komponenten gemeinsam – wie Melodie plus Text, ist das Ergebnis ganz offensichtlich: Dann liegt eine Kopie vor, hier ist substanzielle Ähnlichkeit vorhanden. Eine Akkordfolge lässt sich nicht urheberrechtlich schützen – sonst würde beispielsweise jeder Bluesmusiker gegen Copyright verstoßen. Das wäre lächerlich. Mein Argument: Eine Melodie – eine Tonfolge – schützen lassen zu können, halte ich für ähnlich lächerlich. Vielleicht weniger, da eine Melodie länger sein kann als eine Akkordfolge mit drei, vier Akkorden. Es ist naturgemäß leichter, bei Akkorden auf etwas bereits Vorhandenes zu stoßen – gerade, wenn du gängige Harmonieverläufe verwendest. Wenn du es in einem Spektrum betrachtest – wie stehen die Chancen, dass du die gleiche Akkordfolge verwendest wie jemand anderes? Sehr hoch! Bei einer Melodie ist die Chance niedriger, aber es handelt sich immer noch um das gleiche Konzept.
„Eine Akkordfolge lässt sich nicht urheberrechtlich schützen – sonst würde beispielsweise jeder Bluesmusiker gegen Copyright verstoßen. Eine Melodie – eine Tonfolge – schützen lassen zu können, halte ich für ähnlich lächerlich“
? – Dein Punkt ist also – wenn jeder die gleichen Akkordverbindungen verwenden darf, warum sollte dann nicht jeder auch die gleichen Tonfolgen verwenden dürften?
! – Genau.
„All The Music“-Projektleiter Damien Riehl – den ersten Datensatz von Milliarden Melodien veröffentlichte er mit seinem Kollegen Noah Rubin im Juli 2019. „Die Grundidee hatte ich bereits vor Jahren“, erinnert sich Riehl. „Noah und ich haben die technische Umsetzung zum ersten Mal im März 2019 diskutiert; wir arbeiteten gemeinsam an einem langfristigen Auftrag zum Thema Cybersecurity, und die Idee kam – wie so viele gute Ideen – bei einem Drink in unserer Hotel-Lounge auf“ (Foto: Damien Riehl)
Programmierer Noah Rubin. Damien Riehl: „Noah ist der brillante Entwickler, der das gesamte Coding übernommen hat – den Proof-of-Concept-Prototypen hat er in weniger als einem Tag erstellt. Später hat er das Programm in unterschiedliche Sprachen übersetzt, um die Performance zu verbessern, und hat die Programmierung über das letzte Jahr hinweg immer mal wieder optimiert“
? – Um auf das Argument zurückzukommen, wonach geänderte Akkorde immer noch den Eindruck eines Covers allein anhand der Melodie erwecken würde: Wenn nun nicht mehr die Möglichkeit bestünde, ein alleiniges Copyright auf eine prägende, einzigartige Melodie zu erwirken, wäre es dann überhaupt noch wirklich möglich, einen Song urheberrechtlich zu sichern?
! – Ja, du kannst dir die Gestalt als Copyright sichern, für den Song als Ganzes. Auf jeden Fall auch für eine Aufnahme; wie du den Song singst oder die Art, wie du Gitarre spielst – das, was die Musik hörenswert macht. Wir hören schließlich Musik nicht bloß wegen der Änderung der Tonhöhe. Darauf ziele ich ab: Niemand interessiert sich primär für die Änderung der Tonhöhe, sondern für das Spiel der Musiker – eine mitreißende Stimme, eine süßlich gespielte Gitarre … Nichts, was in der Melodie festgehalten ist, sondern komplett in der Performance. Ich würde also zwei Dinge hervorheben: Aufgenommene Darbietungen sind in jedem Fall urheberrechtlich schützbar. Was die zugrundeliegenden Kompositionen angeht: Nimm die Gestalt aller der Elemente – Melodie plus Rhythmus, Akkorde, Lyrics und weitere Aspekte wie die Dynamik – diese gesamte Gestalt sollte weiterhin schützbar sein.
„Meiner Meinung nach sollte man einen Song lediglich in seiner Ganzheit schützen können – das, was Musik hörenswert macht! Wir hören schließlich Musik nicht bloß wegen der Änderung der Tonhöhe!“
? – Sollte nicht ein „Grenzwert“ existieren, was die Wiedererkennbarkeit einer Melodie angeht? Das ist natürlich schwer zu definieren … Als Beispiel eignet sich vielleicht das Keyboard-Riff der Van-Halen-Nummer „Jump“ oder der Dire-Straits-Song „Walk of Life“. Da wären wir bei dem vorhin angeführten Argument: Wenn jemand schlicht diese Melodie ohne Kontext singt oder pfeift, wäre das vermutlich eindeutig als Cover erkennbar … Verwendet nun jemand diese Melodie in der Form anderweitig, könnte man immer noch argumentieren, dass derjenige sich den Erfolg des Originals zu eigen machen wollte …
! – Okay, lass uns kurz das Van-Halen-Beispiel verwenden, mit der Melodie. Stell dir vor, ich würde eine Melodie kreieren, die so geht [Riehl singt die „Jump“-Melodie sehr getragen, langsam, mit leicht veränderten Notenwerten, als Streicher-Legato – das Ergebnis ist im ersten Moment kaum wiedererkennbar]. Das wäre kaum als Van-Halen-Cover erkennbar, verwendet allerdings die gleichen Tonhöhen. Hat Van Halen also ein Monopol auf diese Folge von Tönen, sodass sie ihnen gehört auf Lebenszeit, plus 75 Jahre? Oder sind das Elemente, die jeder nutzen können sollte?
? – Den Punkt hast du aufgegriffen mit dem Beispiel der drei amerikanischen Kinderlied-Klassiker, „Twinkle Twinkle Little Star“, „Ba-Ba-Black Sheep“ oder dem „ABC Song“: Die drei haben im Kern dieselbe Tonfolge, was aufgrund der völlig unterschiedlichen Liedgestalten nie auffiel – bis jemand zufällig mal auf die Theorie dahinter blickte.
! – Was das Beispiel angeht: Das sind gänzlich unterschiedliche Songs, die wir auch alle als solche wahrnehmen. Der Fakt, dass sie dieselbe Tonfolge als Melodie verwenden, ist eher Zufall als Absicht. Jemand hat den ersten der drei Songs komponiert, und vielleicht hat später Person B oder Person C kopiert. Aber unabhängig vom Vorsatz eines späteren Songwriters – kein Hörer denkt je darüber nach – außer, er wird auf den Hinweis gestoßen. Daher sind es eigenständige Songs.
„Mozart, Beethoven oder jeder andere Komponist der Geschichte hat seine Vorläufer zitiert. Sollten wir für diese Hommage tatsächlich Geld zahlen müssen – oder ist es schlicht Teil der musikalischen Sprache?“
? – Man könnte also sagen: Wenn diejenigen das mit Absicht kopiert hätten, würde es hier in deinen Augen eher im Sinne einer Inspiration funktionieren, die die Funktion einer Inspiration erfüllen, um etwas Neues zu kreieren?
! – Das ist richtig. Und wenn du darüber nachdenkst – im Verlauf der Geschichte zitierte Haydn seine Vorgänger, Mozart tat es ebenso. Das macht keinen Unterschied zu dem Beispiel. Wenn ich also mit meiner Melodie das Van-Halen-Riff zitiere, meine Vorgänger zitiere, ist das etwas, weswegen ich verklagt werden sollte? Ist das, was Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder jeder andere gemacht hat – schlicht jeder – etwas, für das wir Geld zahlen sollen, um jemandem eine Hommage zu erbringen an die gute Arbeit, die sie früher geleistet haben – oder ist das schlicht Teil der musikalischen Sprache? Ähnlich wie die Redefreiheit wäre das praktisch die Freiheit musikalischer Zitate, um praktisch in einen Dialog mit unseren musikalischen Vorfahren zu treten.
? – Das Sampeln einer Aufnahme, wie es bei Hip Hop oft gemacht wurde, wäre in deinen Augen etwas anderes?
! – Richtig, weil du hier auf die Gestalt des Songs abhebst. Es geht nicht nur um die Tonhöhenänderung, sondern um die gesamte Aufnahme der ursprünglichen Musiker, die ihre Instrumente spielen. Du machst dir folglich deren Performance zu eigen, was etwas komplett anderes ist, als das, was ich sage. Allein die Änderung der Tonhöhe sollte nicht kopierbar sein.
Es gibt im US-Recht keine definitive Anzahl von Tönen, die eine Melodie enthalten darf, um noch nicht als Kopie zu gelten. Es existiert nur die sehr vage Regel substanzieller Ähnlichkeit. Es hängt also von einem Richter oder einer Jury ab, ob bereits die Anzahl x Noten einer Melodie Urheberrecht verletzt, oder erst die Anzahl y.
? – Da keine „Mindestanzahl“ von Tönen festgelegt ist, um eine kopierbare Melodie darzustellen oder zu umgehen – wie sieht es beispielsweise mit einem kurzen „Sound-Logo“ einer Firma aus, das vielleicht aus wenigen Noten besteht, beispielsweise in Deutschland bei der Telekom oder weltweit die Intel Pentium-Werbung mit dem „Klong“-Geräusch. Wenn das als eindeutig wiedererkennbar eingestuft wird, wäre es also schwierig, etwas Ähnliches zu verwenden?
! – Das Beispiel eines Sound-Logos kombiniert praktisch beide Formen geistigen Eigentums, um die es geht: zum einen Urheberrecht und zudem Markenschutz. Was ein Sound-Logo angeht – der Sender NBC verwendet drei Töne, Intel bei der Pentium-Werbung nur einen „Ton“. Die sind nicht unbedingt urheberrechtlich schützbar, aber ein Warenzeichen. Das besagt: Der Sound, das Bild oder der Text – was auch immer es ist; das Markenrecht unterscheidet zwischen Quelle eins und Quelle zwei. Wenn der Durchschnittskonsument, also beispielsweise den Pentium-Werbe-Sound hört, wird er ihn mit dem Pentium-Prozessor und Intel verbinden. Auch wenn das nur einen einzelnen Akkord darstellt, ist das nicht unbedingt kopierbar, kann aber markenrechtlich geschützt werden, weil es mit Intel assoziiert wird.
? – Gilt hier ebenfalls das Merkmal der substanziellen Ähnlichkeit?
! – Im US-Markenrechtsgesetz – ich kann nicht für andere Länder sprechen, wobei ich vermute, dass es sich ähnlich verhält – gilt nicht substanzielle Ähnlichkeit als Standard, sondern die sogenannte „Wahrscheinlichkeit der Verwechslung“. Der Standard, den das U.S.-Pantent- & Warenzeichenamt verwendet, beinhaltet „Ähnlichkeit der Marken und die Handelszusammenhänge zwischen den Waren und Dienstleistungen, die von den Marken identifiziert werden.“ Wenn die Wahrscheinlichkeit der Verwechslung festgestellt wird, sind Gerichte dazu übergegangen, dass Ermittler – beispielsweise eine Jury – sich in den Gedanken hineinversetzen sollten, ob ein „angemessener Konsument verwirrt wäre, was die Quelle oder Trägerschaft angeht“.
![Die im Algorithmus entstandenen Melodien sind frei herunterladbar [archive.org/download/allthemusicllc-datasets], den Programmiercode legt das Projekt ebenfalls offen (Screenshot von archive.org)](https://www.professional-audio.de/wp-content/uploads/2022/02/Abb4-Screenshot-Datensatz_1500x449-1024x307.jpg)
Die im Algorithmus entstandenen Melodien sind frei herunterladbar [archive.org/download/allthemusicllc-datasets], den Programmiercode legt das Projekt ebenfalls offen (Screenshot von archive.org)
! – Vielleicht, allerdings ist das zwiespältig: Zum Beispiel kreiert Person A ein Markenrecht zu ihren 500 Songs. Wenn sie eine Person B auf Verletzung des Markenrechts verklagt, müsste sie – zumindest in den US-Gerichten – eine Reihe von Dingen beweisen: Zum einen, dass sie das Warenzeichen im Handel einsetzt, sprich: dass es tatsächlich veröffentlicht wurde. Das zweite – das wichtigere Erfordernis – könnte für einen Künstler schwieriger zu erbringen sein: dass die generelle Öffentlichkeit einen oder mehrere dieser 500 Songs mit diesem Künstler als Quelle assoziiert. Es müsste also eine Art Umfrage stattfinden, ob die Leute beispielsweise Song Nummer 500 mit Person A verbinden. Wenn die Antwort ist, „ich habe Song Nummer 500 nie vorher gehört und habe auch von Person A noch nie gehört“, wird es für diesen Künstler schwierig, ein Warenzeichen darzulegen.
? – Ein rechtliches Grundproblem eures Projekts besteht darin, dass im Urheberrecht nur Melodien als schützbar erachtet werden, die von Menschen geschrieben, nicht von einer Maschine, richtig?
! – Das ist eine offene Frage in US-Gerichten, ob das Werk einer Maschine urheberrechtlich schützbar ist oder nicht, aber in Großbritannien zeigt die Rechtsprechung, dass Arbeiten von Maschinen tatsächlich geschützt werden können. Als Mitglied der sogenannten Berner Übereinkunft würde hier der Aspekt greifen, dass die teilnehmenden Länder gegenseitig die jeweiligen Copyright-Regelungen anerkennen müssen [insgesamt sind Urheberrechtsnormen praktisch weltweit über eine Vereinbarung geregelt: Die „Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst“ trat 1887 in Kraft und wurde bislang von 178 Länder ratifiziert, darunter USA, Großbritannien und Deutschland – d. Autor]. Wenn also Großbritannien die Kreativität maschineller Arbeiten als schützenswert anerkennt, besteht die Frage, ob die USA das in gleichem Maße anerkenne muss und das ist aktuell offen.
! – Stehen denn bereits offizielle Entscheidungen auf Basis Deines Datensatzes aus?
? – Schwer zu sagen, dafür müsste in Zukunft in einem Urheberrechtsstreit vor Gericht auf unsere Daten verwiesen werden, im Sinne von, „Damien und Noah haben diesen Datensatz 2019 kreiert, daher kann ich nicht rechtlich belangt werden“. Es braucht also ein Gericht, um zu entscheiden, ob etwas von dem, über das wir geredet haben, rechtlich bindend ist oder nicht.
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