Einmal Atmosphäre, bitte!

Die Gestaltung von Soundtracks zum bewegten Bild oder zur virtuellen Spielwelt braucht heutzutage ein Arsenal lebendiger und formbarer Sounds. Die cineastischen Librarys des britischen Spezialisten Camel Audio bieten dem zeit- und budgetgeplagten Klanggestalter daher genau das Gesuchte: Viel flexibles Material für wenig Geld. 

Von Carina Schlage 

 

Zwei Möglichkeiten stehen dem modernen Klanggestalter, Filmmusiker oder Spieledesigner heutzutage offen, wenn es um das Erschaffen stimmungsvoll-lebendiger Tonlandschaften und eindrucksvoller Effektsounds geht: Akribisches Bearbeiten und Übereinanderschichten vieler Einzelsounds zu mehr oder weniger komplexen Klangkonstrukten oder der Griff zu bereits vorgefertigten und weitestgehend ausproduzierten Klangstimmungen und -Effekten. Die erste Option ist dabei nicht nur zeit- sondern auch budgetaufwändig, ganz abgesehen vom teilweise enormen Speicherbedarf vieler Einzelsound-Bibliotheken. Bei der zweiten, zeitsparenden Möglichkeit besteht wiederum die Gefahr, im schlimmsten Fall keinen oder nur einen unzureichenden Zugriff auf die Klangereignisse im Einzelnen zu erhalten, da die bereitgestellten Sounds in solchen Librarys oftmals nur als Ganzes und nicht in Form mehrerer separat editierbarer Layer verfügbar sind. Einen ansprechenden Kompromiss zwischen vorgefertigten Klängen und ausreichenden Eingriffsmöglichkeiten bietet seit kurzem der britische Sample-Spezialist Camel Audio in Form der Klang-Bibliotheken Cinematic Atmospheres und Cinematic Impacts: Für gerade einmal je 29 Euro erhält der Sounddesigner eine Vielzahl vorproduzierter komplexer Soundscapes, Pads, Loops, Impacts und Effektsounds, die in einem eigens mitgelieferten Player geladen und auf raffinierte Art und Weise bearbeitet werden können. Bei dem Player handelt es sich um eine Light-Version des Camel Audio Sampler-Flaggschiffs Alchemy: Laden, Abspielen und Bearbeiten der Presets beziehungsweise Samples erfolgt ausschließlich über dieses VST-Plug-in.

Das Laden und Spielen von Standardformaten wie beispielsweise für den Kontakt-Player ist zwar nicht möglich, ebenso wenig ist eine Stand-alone- oder RTAS-Version vorhanden. Doch dies ist insofern zu verschmerzen, als dass der Alchemy-Player intuitiv bedienbar ist, eine Grundausstattung von rund 1,5 Gigabyte an Samples gängiger Instrumente frei Haus liefert und zudem eine Vielzahl von Eingriffsmöglichkeiten in die Presets offeriert, die zum Teil weit über die Standard-Parameter wie etwa Filter-Cutoff, LFO-Rate oder Hüllkurven hinausgehen.   Der Alchemy-Player verwaltet und steuert alle  Camel Audio-Librarys, er muss demzufolge also nur einmal installiert werden. Allerdings kann nur ein Preset pro Plug-in-Instanz geladen werden, denn die Software ist nicht multi-channel-fähig. Bemerkenswert: Während der Installation der Bibliotheken wird nicht nach einem separaten Speicherort für die Samples gefragt, dies kann nach Abschluss des Installations-Vorgangs jedoch manuell vorgenommen werden. Angesichts des sehr geringen Speicherbedarfs von gerade einmal rund 150 Megabyte pro Library ist das jedoch unter Umständen gar nicht notwendig.  Doch zurück zu den Testkandidaten: Die Presets der beiden Librarys sind in unterschiedlich umfangreiche Kategorien aufgeteilt. Cinematic Atmospheres bietet Loops, Pads, Soundeffects, Soundscapes, Strings und Vocals, während Cinematic Impacts mit Arpeggios, Drums, Loops, Soundeffects, Hits, Transitions und ebenfalls Soundscapes aufwartet.  Jedes Preset gibt dabei das Klangergebnis mehrerer Sound-Layer wieder, die allerdings nur in der Vollversion des Alchemy-Samplers sicht- und editibar sind. Die Vollversion kann übrigens für 30 Tage im Testmodus ausprobiert werden.  Hörbar werden die einzelnen Layer über zwei sogenannte Morphing-Pads, indem, ähnlich der Morph-Funktion im Kore-Player oder dem FM8-Synthesizer von Native Instruments, das klangliche Verhältnis der Einzelsounds entlang eines Koordinatensystems verschoben wird – in den Ecken erklingen die vier möglichen Layer dann jeweils solo. Das zweite Pad dient hingegen zum Verlagern des Mischungsverhältnisses zweier zugeschalteter, nicht weiter editierbarer Effekte. Zusätzlich finden sich acht Controller, die gezielt Zugriff auf weitere Parameter wie Cutoff- und Resonanzfrequenz, aber auch Verzerrungen, Kompression, Hall- und Echoeffekte, Zufallsmodulationen oder Pitchshifting erlauben. Das Herumschrauben an den Drehreglern führt im Test zu teils drastischen Änderungen der Originalsamples. Welche Parameter zur Verfügung stehen, ist allerdings fest vorgegeben und variiert je nach Preset.  Grundsätzlich bestehen beide Librarys aus einer Mischung tonaler und geräuschhafter Klänge, von denen die meisten von Haus aus schon sehr geschmackvoll miteinander verwoben und somit direkt auf Brauchbarkeit und Spielbarkeit ausgelegt sind, was letztlich für das Know-how des Herstellers spricht.  Die Pads der Cinematic Atmospheres Library enthalten konsequenterweise einen großen Anteil tonaler und harmonisch verwendbarer Flächensounds und sind auch als solche zu verwenden. In dieser Kategorie finden sich zwar auch einige altbekannte, einfache und wenig spektakuläre Warm-, Sinus-, und Square-Pads, die jedoch durch zusätzliche geräuschhafte Layer sehr bewegt wirken. Mit Hilfe der Morph-Funktion gibt es dabei eine Menge an Klangvariationen zu entdecken: Von ultra-langsam aufbauend bis herrlich wabernd spannt sich eine enorme Klangvielfalt auf. Einige Presets enthalten teils sogar echte Chöre und Streicher, die den Sounddesigner unweigerlich in eine heroische „Herr der Ringe“-Klangstimmung versetzen. Insgesamt gefallen die Pads auf Anhieb und zeichnen sich durch ein hohes Maß an Brauchbarkeit aus. Ähnlich konstruiert sind auch die Presets der in beiden Librarys enthaltenen Soundscape-Kategorie, wobei sich die darin enthaltenen Klänge in beiden Produkten voneinander unterscheiden. Anders als bei den Pads überwiegen bei diesen Presets die Geräusch-Anteile. Teilweise wurden auch impulshafte Effektsounds und rhythmische Loops darin verwoben. Die einzeln gelayerten Klangereignisse sowie der daraus resultierende Gesamtsound lassen sich auch hier wieder mittels Morphing und den acht Controllern höchst variabel gestalten. Verzerrungen, Dopplungen, Tonveränderungen per Zufall und Tastendruck lassen aus wenigen Presets ein ganzes Arsenal teils unberechenbarer neuer Sounds entstehen und machen das Durchforsten beider Librarys zu einer regelrechten Klangreise. Auffällig: Die Soundscapes der Atmospheres-Library besitzen dabei einen nicht ganz so düsteren Grundton als die der Impacts-Bibliothek. Hinter Strings und Vocals verbergen sich in der Atmosphere-Library interessante Flächenklänge, bei denen zwischen echten und synthetischen Streicher- beziehungsweise Vokalsounds hin und her gemorpht werden kann. So wird beispielsweise aus dem harmlos anmutenden Saitentremolo ein kreischend modulierendes Sägezahn-Pad und umgekehrt. 

n der Kategorie Soundeffects, Herzstück der Cinematic Impacts-Library und in kleiner Zahl auch in den Cinematic Atmospheres vorhanden, wurden alle möglichen geräuschhaften Sounds verwurstet: Auf Tastendruck entfalten sich kurze bis mittellange bedrohlich, aber auch strahlend-schimmernd und glitzernd anmutende Effektklänge, hinter denen das geübte Ohr verfremdete Flugzeuge, Formel-1-Wagen, stotternde Motoren, quietschende Metalltüren oder sogar grunzende Schweine erkennt. Die Soundeffects der Cinematic Impacts können dabei grundsätzlich eher überzeugen, als die der Atmospheres-Library, die den effektverwöhnten Sounddesigner nur mäßig ansprechen dürften. Dies ist sicherlich nicht ganz unbeabsichtigt, stellen beide Librarys doch eine perfekte Symbiose und Ergänzung aus tonalen und geräuschhaften Tonlandschaften und Effektklängen dar.   Die Soundeffects, Hits und Transitions in Cinematic Impacts lassen das Herz des Klanggestalters – trotz einiger sehr klischee- und comichafter Sounds –  mit Sicherheit vollends höher schlagen: Die zahlreichen Impulsklänge, Einschläge, Sweeps, Swooshes und weitere, schwer zu beschreibende Effekte bieten sich zum hemmungslosen Verbiegen geradezu an. Beispielsweise ist es möglich, Impacts via Morphing in ihrer Intensität an- oder abschwellen oder Soundanteile von einer Sekunde auf die nächste komplett absterben zu lassen oder mittels Controller den implementierten, braven Sinuston in einen herrlich verzerrten Pfeifton zu verwandeln. Auch die unter der Kategorie Drums gesammelten Presets der Cinematic Impacts-Bibliothek können sich hören lassen: Die dargebotenen Sounds sind dabei nur im weitesten Sinne als Schlaginstrumente zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um alle möglichen Arten perkussiver Klangquellen, wie Tonnen oder Metallgegenstände, die mittels Effekten stark verfremdet wurden. Vor allem am WarDrum-Kit und der Option, dieses bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren, dürften nicht nur Industrial-Fans ihre helle Freude haben.  Trotz überraschend vielfältig realisierbarer Klangvariationen können jedoch nicht alle bereitgestellten Presets und Sounds überzeugen. Mit den meisten Arpeggios der Impacts-Library beispielsweise, die ähnlich konstruiert sind wie die Loops und sich ebenfalls durch rhythmisch und harmonisch bewegende synthetische Sounds auszeichnen, konnten wir wenig anfangen. Zwar offenbaren sie sich in gewisser, positiver Form als unberechenbar, da den Tasten teilweise verschiedene Sounds zugeordnet sind. Die Spielbarkeit dieser sehr vordergründig anmutenden Tonfolgen ist allerdings relativ beschränkt, was vor allem daran liegt, dass beim Tastenwechsel die klingenden Samples abrupt abreißen und auf der neuen Taste von vorn anfangen. Ein überzeugendes Legatospiel ist auf diese Weise nicht möglich. Gleiches gilt für die Loops, die vorrangig aus sich wiederholenden rhythmischen Elementen bestehen, unter die sich jedoch auch die eine oder andere Bass- oder Synthesizer-Phrase mischt. Diese  teilweise beeindruckend ausproduzierten Presets richten sich eher an den Sounddesigner der Spielefraktion, der bequem mit einem einzigen Tastendruck fett klingende Jingles unterschiedlichster Genres erhält. Auffällig ist die nahezu allen Klängen innewohnende starke Verhallung, die zum Glück mittels Controller nachhaltig eingeschränkt oder komplett ausgeschaltet werden kann. Denn viele der Einzel-Layer haben nach unserem Geschmack eine solch starke Effekthascherei gar nicht nötig, sondern entwickeln ohne hinzugefügte Raumsimulation erst eine besondere, angenehme Bissigkeit oder treten, wenn gewünscht, überhaupt erst aus dem Klangnirvana heraus in den Vordergrund. Nächste Auffälligkeit: Fast alle Sounds besitzen einen fast schon extrem langen Nachklang, der sich jedoch mit Hilfe der Hüllkurven-Regler präzise nachjustieren lässt.  Die für eine moderne Sample-Library gering anmutende Zahl von 75 Sounds und rund 120 Presets relativiert sich innerhalb weniger Minuten des Betriebs mit dem Alchemy-Player allerdings von selbst. Denn die Klangvariationen sind dank der spannenden Morph- und Controller-Funktion enorm, wenn auch nicht unendlich, denn letztendlich kann der Nutzer nicht selbst bestimmen, welche Parameter und Effekte gemorpht oder editiert werden sollen. Dafür können einzelne Layer bei Nichtgefallen durch die entsprechende Position im Morph-Koordinatensystem einfach komplett stumm geschaltet werden, wenngleich dies nicht in völliger Unabhängigkeit zum Klangverhältnis der anderen Layer möglich ist.  

Fazit

Cinematic Atmospheres und Cinematic Impacts sind zwei hörens- und testenswerte Klangbibliotheken, die sich vor allem an Ambient- und Industrial-Produzenten sowie Sounddesigner und Filmmusiker richtet. Die Sounds klingen durchweg sehr gut und ausgewogen, eine Bevorzugung bestimmter Frequenzbereiche ist nicht auszumachen.  Einziger wirklicher Wermutstropfen: Die Samples liegen lediglich im 16 Bit-Format vor. Hier wäre, auch für den geringen Preis, eine standardgemäße 24 Bit-Auflösung wünschenswert gewesen. Das hervorragende Preis-Leistungsverhältnis kann diesen Makel allerdings weitestgehend wettmachen.

 

Erschienen in Ausgabe 02/2011

Preisklasse: Oberklasse
Preis: 29 €
Bewertung: gut – sehr gut
Preis/Leistung: überragend