Vom Tanzlokal zum Studio

In den 1960er Jahren wurden im Studio Nord aufwendig Schlager produziert, etwa von Heintje, Rudi Carrell oder Ronny, dem ehemaligen Besitzer. Inzwischen haben die Produzenten Oliver Sroweleit und Gregor Hennig das lange in Vergessenheit geratene Studio übernommen, um es samt seiner historischen Equipment-Schätze wieder zu nutzen.

Von Nicolay Ketterer (Fotos: N. Ketterer, M. Huch, O. Sroweleit)

Der Bremer Stadtteil Oberneuland, in dem das Studio Nord in einer breiten Straße liegt, wirkt beschaulich. Ein flüchtiger Blick lässt ein großes Einfamilienhaus erahnen. Die Fassade gibt allerdings nichts preis von den ausladenden Dimensionen dahinter, schon gar nicht vom großen Aufnahmeraum mit Parkettboden, der sich im hinteren Teil des Gebäudes erstreckt.
Wenn man genau hinsieht, sind im Studio Nord noch Spuren des Tanzlokals zu erkennen, das in dem Gebäude ursprünglich beherbergt war, vor nun gut einhundert Jahren. Im großen Saal stehen noch alte Holz-Tische von 1910 und ein Standklavier. Mit diesem damals live für die Tanzpaare aufgespielt. Inzwischen gibt das Instrument einen typisch schwebend-schiefen „Honky Tonk“-Sound von sich. An den Saalwänden zeugen Umrisse vormaliger Torbögen von der früheren Architektur.

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„Das letzte Mal war der Raum in den 1970ern öffentlich zugänglich“, erzählt einer der heutigen Betreiber, Produzent Gregor Hennig. Das Studio Nord Bremen gehörte früher dem 2011 verstorbenen Wolfgang Roloff, besser bekannt als Schlagersänger Ronny, der auch als Komponist erfolgreich war und Heintje entdeckt hatte. Zwar konnte sich das Studio nach seinen Hochzeiten für Aufnahme und Produktion in den 1960ern zunächst einen Ruf für Vinyl-Schnitt-Leistungen erarbeiten, aber zu diesem Zweck kamen die Kunden nicht weit ins Gebäude: „Zum Mastering links abbiegen, hieß es damals. Kaum einer hat den Aufnahmeraum gesehen. Von den 1980ern bis 2011 wurden nur gelegentlich Amateur-Ensembles aufgenommen, etwa Shanty-Chöre.“

Roloff gründete das Studio ursprünglich in ganz anderen Räumlichkeiten – 1966 im Hinterzimmer der Kellerbar eines Bremer Hotels. Drei Jahre nach der Gründung erwarb er den großen Dorfgasthof – so hieß das frühere Tanzlokal – der seitdem das Studio Nord beherbergt. Der 120 Quadratmeter große, rund sechs Meter hohe Aufnahmeraum wurde von Akustiker Heinrich W. Lüdeke, der in den 1960ern die Studiolandschaft in Norddeutschland einschlägig prägte, den Bedürfnissen eines Tonstudios angepasst und umgebaut. „Das Halbrund in der Decke, das akustisch ähnlich wie eine Kuppel wirkt, ist ungünstig. In der Saalmitte entsteht dadurch ein akustisches Loch aufgrund mangelnder Reflexion von der Decke. Lüdeke hat Diffusoren in dem Bereich aufgehängt, damit sich der Schall gleichmäßiger verteilt“, erklärt Produzent Oliver Sroweleit. Zusätzlich zum Saal verfügt das Studio Nord über zwei Regieräume und zwei Gesangskabinen.

Nach seiner Blütezeit in den 1960ern war das Studio samt seiner Schlagergeschichte praktisch in Vergessenheit geraten, bevor es vor fünf Jahren von Produzent und Tontechniker Oliver Sroweleit übernommen wurde. Sroweleit hatte sich mit Produktionen mit Größen wie Fury In The Slaughterhouse und Stoppok einen Namen gemacht. Sein Bremer Vermieter war zufällig der Sohn Wolfgang Roloffs. Nach dem Tod des Vaters fragte dieser Sroweleit, ob ihn das Studio interessiere – so kam es zur Übernahme. Später stieß sein Produzenten-Kollege Gregor Hennig hinzu, kürzlich auch Pascal El Sauaf, der ebenfalls im Studio Nord produziert. Wie die Idee aufkam, das Studio zu übernehmen? „Es war weniger die Vision, unbedingt ein großes eigenes Studio aufzumachen. Aber Du stehst hier drinnen und kannst nicht zuschauen, wie sowas einfach zugemacht wird,“ erläutert Henning.

Zu den ersten namhaften Neukunden seit der Wiedereröffnung zählen Stoppok, Vierkantlager, Heinz-Rudolf Kunze, Jupiter Jones und der Pianist Chilly Gonzales, der kürzlich Aufnahmen für eine Arte-Dokumentation im Studio Nord aufnahm. Auch Live-Konzerte – nach dem Vorbild der Abbey-Road-Studios – werden im großen Saal des Studios veranstaltet, bislang mit Künstlern wie Christina Lux, den Wingenfelder-Brüdern (früher bei Fury In The Slaughterhouse) oder Fischer Z. Darüber hinaus arbeiten die Produzenten auch mit Newcomern zusammen.

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Live-Einspielung mit Kommunenflair

Der Singer-/Songwriter Stefan Stoppok hat sein aktuelles Album „Popschutz“ im großen Saal des Studio Nord gemeinsam mit seinen Mitmusikern auf Analogband eingespielt. Ein Freund hatte ihn auf das Studio aufmerksam gemacht, sonst hätte er die Platte wohl zu Hause aufgenommen, erzählt er. Der Musiker arbeitet mit einem Alleinunterhalter-ähnlichen Setup: Zwei Fußpedale für Bassdrum und Snare – gelegentlich auch Cajon – dazu Gitarre und Gesang. Hinzu kommt seine Band mit Schlagzeug, Bass und Keyboards. Auf die Einspielung mit „festzurrendem“ Click haben die Musiker bewusst verzichtet, stattdessen setzten sie auf die fast „kommunenhafte“ musikalische Atmosphäre und den eigenen Flow. Stoppok schätzte den traditionellen Ansatz, „wie man es früher gemacht hat.“

Der Gesang wurde mit einem alten Neumann U-47 und einem API 7600 Channel-Strip aufgenommen. Auf den Popschutz, zwar namensgebend für das Stoppok-Album, wurde bei den Aufnahmen verzichtet: „Wir haben verschiedene Modelle ausprobiert, konnten aber immer einen Klangunterschied zur Variante ohne wahrnehmen“, erklärt Produzent Sroweleit. „Bis auf einen Pop-Laut hat Stoppok das auch gut hinbekommen, am Mikrofon vorbei zu singen.“ Andere Gründe für den Verzicht: „Er konnte die Entfernungen zum Mikrofon besser variieren, und auch Drummer Wally Heider besser sehen.“

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Teurer Spaß: Die Aufnahme auf Band

Oliver Sroweleit deutet auf ein großes Regal gefüllt mit Bändern, in einer Kammer neben dem Regieraum. „Ein GP-9-Mehrspur-Band kostet etwa 390 Euro.“ Viele der Bänder sind allerdings gebraucht und gehörten bereits zum Studio-Fundus. „Früher hat man zusätzlich Sicherheitskopien angelegt.“ Im Neupreis würden sich die Bänder für die Produktion, Kopien mitgerechnet, theoretisch auf bis zu 20.000 Euro belaufen. Heute werden Bänder vom Studio für etwa 50 Euro vermietet, erzählt Sroweleit.

Beim Stoppok-Album wurden die Aufnahmen anschließend direkt in den Rechner überspielt, allerdings blieben die ursprünglichen Bänder erhalten: „Zum Mischen haben wir später überwiegend die Originalbänder genutzt – nur dann nicht, wenn wir die Aufnahmen editiert haben.“ Zum einen sollten die analogen Aufnahmen nicht durch ständiges Abspielen beim Overdubbing abgenutzen wollen, zum anderen sei es einfacher gewesen, Overdubs direkt in Pro Tools aufzunehmen. „Bis auf zwei Nummern kam der Gesang am Ende direkt vom Band. Die Bläser und einzelne Gitarren-Overdubs haben allerdings nicht mehr auf die 24 Spuren der Bandmaschine gepasst“, erklärt Sroweleit.

Auch der Raum sollte bei der Aufnahme zur Geltung kommen. „Oben auf dem Dach über dem Regieraum“ arbeitete Sroweleit „mit zwei Neumann M-49“, „auf der Bühne am hinteren Ende des Saals“ kamen „zwei weitere, auf Kugel eingestellt“ hinzu. Die Kugelcharakteristik gefällt ihm, weil sich die räumlichen Signale angenehm mit den trockenen Sounds der nahmikrofonierten Instrumente mischen. „Kugelcharakteristik funktioniert gut, wenn die Mikrofone weit genug auseinanderstehen.“ Zusätzlich stand ein Neumann SM-23 in der Mitte des Raums „für den ‚Feeling-Effekt‘, eine leichte Band-Ambience“, erklärt Sroweleit.
Saal mit 60er Jahre-Charakterklang

Auch sein Kollege Gregor Hennig nutzt den Raum gerne als hörbaren Effekt für seine Produktionen: „Als ich das erste Mal reinkam, wusste ich: Das ist der Raum, in dem ich immer aufnehmen wollte. Moderne Räume finde ich immer zu trocken. Mit stark projizierenden Sälen, in denen etwa klassische Orchester aufgenommen werden, kann man jedoch für Rock-Schlagzeug nichts anfangen.“ Die Raumakustik im Studio Nord klinge noch recht trocken für die Größe, die Klangcharakteristik beschreibt er mit dem Synonym „1960er-Jahre-Unterhaltungsorchester“: „Viele frühe Reflexionen von den Wänden, die aber auch schnell wieder abebben. Das Ergebnis klingt lebendig und eignet sich sehr gut für Akustikgitarre, Bläser, Streicher, praktisch alles.“

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Historische Mikrofone, gerettetes Mischpult

Der Mikrofonbestand des Studio Nord kann sich sehen lassen, sechs Neumann M-49, fünf U-67, das erwähnte Röhren-U-47 und ein U-47fet-Modell zählen unter anderem zu den „Klassikern“ des Studio-Fundus. Dazu gesellen sich alte Neumann-Flaschen, ein SM-23-Stereo-Röhrenmikrofon, KM-84-Kleinmembranen, zwei RCA 44-BX-Bändchenmikrofone sowie ein Sony C-48-Röhrenmikrofon. Die Mikrofone sind freilich nur ein Teil der Gleichung, Sroweleit hat eine Analogie parat: „Ein Schlagzeuger kauft sich für 3.000 Euro ein Schlagzeug. Würde auch ein Sänger 3.000 Euro in seinen Gesang investiert, wäre alles gut“, schmunzelt er. Dankbarerweise wurde das Equipment des Studio Nord nie verkauft, sondern während des Leerstands einfach im Keller eingelagert.
An den Regie-Arbeitsplätzen stehen ein Amek M-2000-Mischpult aus den 1980ern sowie ein Neve 5106-Pult. Letzteres bekamen sie von einem Nachbarn geschenkt, der in der Zeitung auf das Studio aufmerksam wurde. Die ehemalige Konsole aus einem Hamburger Rundfunkstudio lagerte zerlegt auf dem Dachboden, der Besitzer wollte sie entsorgen. Sroweleit, ursprünglich Energiegeräte-Elektroniker, hat die Einzelteile wieder zusammengesetzt und das Pult gebrauchsfertig gemacht.

Outboard

Als zusätzliche Vorverstärker stehen im Studio Nord mehrere Lorenz V-241-Röhren-Vorverstärker, SPL Gain-Station- und Focusrite-Exemplare, eine Manley Voxbox und ein Telefunken V-276 bereit. Unter den analogen Kompressoren finden sich Urei beziehungsweise Universal Audio 1176-Exemplare sowie die Urei 1178-Stereo-Variante, dazu Empirical Labs Distressoren und zwei Eventide Omnipressor-Geräte. Letzterer kam bei der Stoppok-Produktion auf der Fuß-Snare zum Einsatz, „für einen ‚Schmatz-Knack‘“, meint Sroweleit. „Den ‚Omnipressor‘ kann kaum jemand bedienen, weil er ein sehr kryptisches Handbuch hat. Eigentlich hat er nur wenige Knöpfe, aber die Einstellungen sind Millimeterarbeit. Damit kann man Transient-Designer-Effekte machen, Hüllkurven-Design im weitesten Sinn“, erläutert Oliver Sroweleit.

Hall-Arsenal

Unter den Hallgeräten befindet sich eine EMT 140-Hallplatte und deren Nachfolger EMT 240, auch diverse Lexicon-Klassiker und TC-Geräte sind vorhanden. Ein altes Lexicon Model 200 schätzt Sroweleit für „einen guten Gesangsraum.“ Das Gerät sei „die teure Variante des PCM-60“, lacht er. Im Regieraum steht zudem ein AKG BX-10-Federhall, der auf der Fußsnare von Stoppoks Album zum Einsatz kam. Das bedurfte im Mix besonderer Vorsicht, wie Sroweleit erzählt: „Ich musste nach dem Einschalten der Bandmaschine leise vorbeischleichen, weil die BX-10 stark auf Trittschall reagiert – bei manchen Aufnahmen hört man das, bevor der Song startet.“ Er habe die Mischungen vorher „geübt“, wie früher, erzählt Sroweleit. Stoppok und Sroweleit haben vierhändig gemischt. „Ohne Automation mussten wir alle Elemente manuell bedienen.“ Die fertigen Mischungen haben sie sowohl analog auf eine Revox Viertelzoll-Bandmaschine ausgespielt, als auch direkt in Pro Tools aufgenommen. In Stoppoks Cadillac haben sie die Mischungen anschließend testgehört. „Da haben wir bemerkt, dass die Band-Aufnahme der Mischung zu schwammig klang“, erzählt Stoppok. Stattdessen haben sie die digitalen Versionen verwendet. „Stoppok weiß genau, was er will. Nur weil die ganzen Geräte vorhanden sind, müssen wir sie nicht unbedingt einsetzen.“

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Aufnahme-Philosophie

Der Bandmaschinen-Fundus des Studio Nord ist ebenfalls bemerkenswert. Dazu zählen eine 8-Spur Telefunken M-10A, drei 2-Zoll 24-Spur-Maschinen: eine Telefunken M-15A, eine Otari MTR-90 MK-II und ein MCI JH-116-Modell sowie verschiedene Zweispur-Mastermaschinen. Die Maschinen können mit der DAW synchronisiert werden. Sroweleit nutzt das analoge Medium gerne für sich. Das Schneiden vom Band – mittlerweile eine seltene Fertigkeit – sei seine Domäne. Auch Gregor Hennig, der in den 1990ern noch mit der Arbeit auf Band angefangen und – wie die gesamte Branche – auf den Computer umstieg, hat die Technik kürzlich wiederentdeckt. „Neben dem Klang, der mir gefiel, waren mir auch andere Faktoren sehr wichtig.“ Er bevorzugt die analoge Arbeitsweise für einen lebendigen Take statt einen am Rechner optimierten: „Ich nehme gerne zunächst auf Band auf, um die Musiker nicht in ihrem Perfektionismus zu bremsen; damit sie den Take so spielen, wie sie ihn möchten, statt verschiedene Versionen einzuspielen, die Entscheidung zu verschieben und auf den Produzenten abzuwälzen.“ Dadurch entstehe kein musikalisch optimales Ergebnis. „Technisch perfekt kann inzwischen absurderweise jeder, das Alleinstellungsmerkmal ist der kleine Schritt davor – nicht perfekt, aber bewusst so gemacht.“
Das Studio Nord-Team weiß, dass gutes Equipment wichtig, aber noch lange nicht alles ist. „Man kann so rechnen: Der Musiker liefert 100 Prozent, und die Technik danach nimmt mehr oder weniger davon weg.“ Mit einem schlechten Gitarrenverstärker bleibe nicht viel übrig, aber es sei auch nicht so, dass mit einem begehrten, alten Vox AC-30 – ebenfalls im Studio-Fundus vorhanden – plötzlich 120 Prozent da wären, so Hennigs Theorie.

Außer für die Aufnahmen ist im Studio Nord auch für den Aufenthalt gesorgt: Eine Musikerwohnung für bis zu neun Personen kann steht bereit, ein Garten zum Erholen ist ebenfalls vorhanden. Im Gebäude residiert ein Musikverlag, der Roloffs Kompositionen verwaltet, darunter – als Mit-Autor – „Sierra Madre del Sur“ sowie einige Heintje-Titel. „Die Erben von Wolfgang Roloff haben immer noch Einnahmen aus den Hits“, weiß Hennig. Beim Erhalt des Studios sei auch Nostalgie im Spiel, der Wunsch, das Andenken an Roloff zu erhalten.

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