Im Reich der Mitte

Autor Andrew Levine begab sich auf eine Reise nach Shanghai, besuchte Studios, Konzertsäle, Musikhochschulen, Messen und hielt Vorträge. Seine Eindrücke vom Recording- und Musikstandort China teilt er mit uns in einer zweiteiligen Reportage-Serie.

Von Andrew Levine

Vor wenigen Monaten gab es ein Rundschreiben der Messe Frankfurt an die Referatsleiter des Verbands Deutscher Tonmeister. Gesucht wurde ein Experte für Aufnahmetechnik, der Lust hätte, einen entsprechenden Vortrag auf der ProLight+Sound zu halten – in Shanghai! Nachdem ich noch nie in China gewesen bin und mich das Land, die phänomenale Kultur sowie die komplexe klassische Musik schon immer interessiert hat, kam ich nicht umhin, mich umgehend zu melden. Da „Miking 101“ auf der letzten Veranstaltung in Frankfurt sehr gut angekommen ist, bekam ich den Auftrag für Shanghai.

Reiseplanung

Ein Unterfangen wie dieses benötigt einiges an Planung und Zeit. Der Pass musste verlängert, ein Visum beantragt werden. Außerdem galt es gründlich zur Musik- und Musikaufnahmekultur in China zu recherchieren. Für mich wäre der Besuch in einem fernen Land unbefriedigend, wenn ich nur hinfliegen würde, um den gewünschten Vortrag auf der Messe zu halten. Ich wollte mehr. Ich würde auf jeden Fall versuchen, einige Konzertsäle und Studios zu besuchen und das Shanghai Conservatory of Music, das älteste Ausbildungsinstitut seiner Art in China.

Unglücklicherweise ist es vom Ausland aus sehr schwierig, Kontakte in China zu knüpfen, vor Allem wenn man der chinesischen Sprache, besonders dem Mandarin, nicht mächtig ist. Die meisten chinesischen, teils wenig aktuellen Websites liefern keine englische Übersetzung und die Google-Übersetzung holpert bekanntlich gewaltig. Auch mit dem Telefon hatte ich wenig Erfolg. Aber mit Hilfe einiger europäischer Kollegen sowie mit eigener Beharrlichkeit konnte ich vorarbeiten.

Shanghai

In Hamburg konnte ich mir etwas Hilfe holen. Ein Treffen mit Carsten Krause, dem geschäftsführenden Direktor des Konfuzius-Instituts, und mit Philipp Hirschfeld, dem Koordinator der „China Time 2016“ vom Hamburger Senat, war sehr informativ für mich. Ein Hoch auf die Städtepartnerschaft von Hamburg mit Shanghai! Ich richtete mir WeChat, das chinesische Pendant zu WhatsApp, auf meinem Handy ein, beschäftigte mich mit dem Design einer englisch-chinesischen Visitenkarte und lernte einige Brocken Mandarin, beziehungsweise die Worte für vegetarisches Gericht, grüner Tee, Tonaufnahmen und Stereo, die mir nützlich erschienen.

Auf der IBC in Amsterdam lernte ich den Chef von Salzbrenner China kennen: Zeng Dong (in China wird der Familienname vorangestellt; bei den Chinesen, die sich westliche Vornamen gegeben haben, nutze ich die bei uns gebräuchliche Abfolge). Salzbrenner China organisiert in Zusammenarbeit mit China Central Television (CCT), ein Symposium der chinesischen  Society for Motion Picture and Television Engineers (SMPTE). Auf der Suche nach einem Referenten für 3D-Audio sind sie vom VDT auf mich aufmerksam gemacht worden. So kam ich zu einem zweiten Vortrag in China.

In meiner Bemühung, einen Besuch in der Sennheiser-Shanghai Concert Hall möglich zu machen, vermittelt mir Gregor Zielinsky von Sennheiser den Kontakt zu Shi Ying, einer Komponistin für elektronische Musik und Dozentin am Department of Music Technology der Shanghai Normal University. Sie hat in den Niederlanden studiert, sich lange in Europa aufgehalten und kann zwischen beiden Welten vermitteln.

Derweil zahlten sich meine Studio-Recherchen aus. Alex Riviere von CCP Asia wird mir das In-House Tonstudio für VR Game Sound Design zeigen. Über Nigel Schoepe vom englischen Resolution Magazine ließ sich eine Tür zu Harman China öffnen. Das würde mir erlauben, die Studer-Konsole und die Räumlichkeiten des Shanghai Oriental Arts Center zu besichtigen. Ganz überraschend bekomme ich nach vielen E-Mails an diverse Adressen eine Rückmeldung von Eric Chan, einem Master-Studenten am Konservatorium und Assistent des Dekans für die Abteilung für Musik-Produktion. Mr. Chen sei sehr an einem persönlichen Treffen interessiert. Super!

Shanghai

Eine Woche vor dem Abflug erhalte ich mein Visum. Die Botschaften der Volksrepublik China haben diese Dienstleistung in Visa-Zentren ausgelagert, die sich um die Formalien der Antragstellung und die Bezahlung kümmern. Doch über die Vergabe entscheiden die Botschaften. Es ist empfehlenswert, ausreichend Zeit für den Antrag einzuplanen. Es sollte ein Reisepass mit Ein- und Ausreisestempeln verwendet oder zur Not auch ein abgelaufenes Exemplar mitgebracht werden. Für ein Business-Visum sind die Originale von Einladungen in Papierform vorzulegen. Für China selbst empfehlenswert: Kopien von Pass und Visum stets bei sich tragen, sowohl in Papierform sowie auch für alle Fälle „in the Cloud“.

Damit wären wir beim Thema Internet. China hat ein große Mauer – auch im Cyberspace. Ein VPN/Virtual Private Network – vor (!) der Abreise installiert – ermöglicht es Besuchern aus dem Westen, alle uns vertrauten Dienste wie Google oder Facebook auch in China zu nutzen. Nicht zu vergessen: Es ist empfehlenswert, dem Kreditkarten-Anbieter mitzuteilen, dass man beabsichtigt, eine Reise nach China zu unternehmen. Sonst besteht die Gefahr, dass bei der ersten Abbuchung im Reich der Mitte plötzlich die Karte gesperrt wird.

Los geht’s!

Sehr bald saß ich auch schon im Flieger via Helsinki nach Shanghai. Mittags abfliegen, morgens um sieben Uhr ankommen – das finde ich ganz gut. Zuerst ging es von Hamburg nach Finnland inklusive automatischer Grenzkontrolle dank biometrischem Passfoto – Big Brother lässt grüßen. Dann ging es weiter nach Shanghai. Die Einreise gestaltete sich unproblematisch. Man sollte sich allerdings Zeit lassen, das Einreiseformular sorgfältig auszufüllen und auf keinen Fall den Schnipsel für die Rückreise verlieren.

Vom Pudong International Airport kann man mit der Magnetschwebebahn, dem Shuttlebus, einem Taxi oder der U-Bahn in die Stadt kommen. Laut Info-Schalter werde mein Zielhotel, das Holiday Inn Pudong Kangqiao, nicht von den Shuttles angefahren, aber am Shuttle-Desk nahmen sie mir gerne 68 ¥ (Yuan Renminbi), etwas unter zehn Euro, ab. Nach etwas Wartezeit für der Shuttlebus über fast endlos wirkende Hochstraßen der Metropole entgegen. Anfangs noch sehr zügig, war es doch kurz nach acht Uhr, dann zusehends langsamer. Gemeinhin dauert die Rush-Hour auf den Straßen von Shanghai quasi von morgens bis abends an.

Gegen neun Uhr kam ich im Hotel an. Das Zimmer war schon bezugsfertig. Frühstück gab es bis zehn Uhr, also konnte ich sogar nach einer erfrischenden Dusche einen Bissen zu mir nehmen, bevor ich mich zu Fuß auf den Weg zur U-Bahn machte.

Mein Orientierungstag

Die nächste Station, Xiuyan Road, ist circa 15 Minuten von meinem Hotel entfernt. Auf dem Weg gibt es nur anfangs einen Bürgersteig, danach ging ich auf dem Standstreifen oder Fahrradweg (?) weiter. Nicht lange, da stoppte ein Moped vor mir ab. Der Fahrer hatte mich überholt, sich umgedreht und wollte mich wohl mitnehmen. Er zeigte in Richtung Hochbahn-Brücke. Ich nickte und setzte mich hinter den Fahrer. Er fuhr für meinen Geschmack etwas zu schnittig, aber der Weg war nicht weit und ich fiel nicht herunter runter.

In Xiuyan besorgte ich mir mit einigen Umwegen und der mit der Hilfe eines Fahrkartenverkäufers mit Übersetzungs-App eine SPTC-Fahrkarte mit 20 Yuan Guthaben, was für etwa vier Fahrten ausreicht. Beim Ein- und Aussteigen aus den Bahnen herrschte trotz Schranken ein haltloses Gedränge, Markierungen für einen geordneten Ablauf werden dort generell übergangen. Ich bin sieben Stationen unterwegs, bis zum Oriental Sports Center. Zum Glück wurden die Stationen sehr laut und auch auf Englisch angesagt. Als ich ausstieg, folgte ich dem teils verwirrenden Schilderwald. Mein Ziel ist die Xizang South Road. Sie liegt etwas nördlich von einer Windung des Huangpu.

Ursprünglich hatte Alex Riviere unser Treffen schon für heute angesetzt, aber er musste kurzfristig auf morgen verschieben, weil die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung anstand. So etwas passiert in China manchmal etwas plötzlich. Auch in Bezug auf die Papiere, die man dabei haben muss, gibt es immer wieder Überraschungen. Shi Ying hatte großes Interesse an dem CCP-Besuch bekundet, sodass wir gemeinsam dort hingehen würden.

So nutzte ich meinen ersten Tag allein zur Orientierung. Noch hatte ich keinen Netz-Zugang organisiert, aber mit einer Offline-Karte funktionierte das ganz gut. Ich hatte auch kein festes Ziel bis auf den Wunsch, am Abend wieder in mein Hotel zurückzufinden, und das gelang mir fast reibungslos. Der Hotel-Portier hatte die Station etwas undeutlich markiert, so stieg ich eine Haltstelle zu früh aus. Ich beschloss, meine Exkursion in der Gegend um das Hotel herum fortzusetzen, besuchte ein interessantes Shopping-Center, trank leckeren Ingwer-Saft und schaffte es dann doch, mich zu verlaufen.

Ein freundlicher junger Chinese, der allerdings kein Englisch sprach, beriet mich mit Hilfe einer Übersetzungs-App und einer Straßenkarte. Letztlich rief er mir doch ein Taxi. Es war nicht einmal weit zum Hotel, aber am ersten Abend in China, müde, im Dunklen und ohne Navi ist das Taxi ein echtes Geschenk – sogar im wahrsten Sinne. Als ich bezahlen wollte, erklärte mir der Fahrer, dass mein Freund das schon für mich getan hätte. Vielen, vielen Dank nochmal dafür!

Zu Gast bei CCP

Nach einem ausgiebigen Nudelfrühstück ging es wieder in die Innenstadt. Ich traf Ying zwischen dem Starbucks und dem KFC (diese Ketten gibt es auch in China) an der Haltestelle Changping Road und gemeinsam ging es zur Games-Abteilung von CCP. Wir durften uns kurz in den Räumen der Entwickler und des Supports umsehen – Fotografieren ist dort aus Sicherheitsgründen nicht gestattet- dann ging es weiter ins Tonstudio. Hier werden vor Allem die ersten Entwürfe für die komplexen Game-Sounds angelegt und Templates für die Soundtracks konzipiert. Die Feinarbeit, wie auch die lokalisierten Sprachaufnahmen werden in aller Regel extern in Auftrag gegeben.

Alex arbeitet schon seit circa sechs Jahren für CCP, anfangs als Subcontractor und jetzt seit einigen Monaten als Chef der Audio-Abteilung. Die Abteilung in Shanghai beheimatet 80 Angestellte, die permanent an der Realisierung von First Person Shooter Games werkeln. Dies umfasst das nächste Produkt in der Pipeline, die Weiterentwicklung der schon veröffentlichten Spiele sowie die Planung der Nachfolge-Produkte. Neben der Spiele-Entwicklung selbst und dem Managen der Software-Technik, bei der im Audio-Bereich alle zwei Wochen ein Update zu erwarten ist, stellt die Logistik die größte Herausforderung dar.

Ein weiteres Problem: Kaum ist ein Spiel auf dem Markt erfolgreich, schon wird es kopiert. Das geht im asiatischen Raum noch schneller als in Europa. Da sich die Abkupferer nicht mehr so viele Gedanken um das „Look and Feel“ der Games machen müssen, überraschen sie teilweise mit guten Ergänzungen und brillanten Innovationen.  Aber für eine Firma, die originelle Spiele schaffen möchte und sich auf solch einem dynamischen Markt behaupten will, bedeutet das extrem harte Arbeit.

Alex gibt uns einen umfassenden Einblick in das Sounddesign für Spiele. Besonders das Ambisonics-Verfahren sei seit diesem Jahr wieder aufgeblüht. Gleich mehrere Plattformen unterschiedlicher Hersteller stehen für die Kreation von immersivem Audio zur Verfügung. Mittlerweile fließt immens viel Know-how in diesen Aspekt des Game-Designs. Vom akustischen Feedback zum Zustand der virtuellen Waffen, wie etwa dem unterschiedlich klingenden Warm-up und Cool-down eines Maschinengewehrs in Abhängigkeit von der Menge an verfügbarer Munition bis zu der Hallfahne eines gezogenen Säbels in unterschiedlichen virtuellen Räumlichkeiten. Fast endlose Komplexität findet sich im modernen Game-Sound-Design!

Ausblick

Nach dem spannenden Besuch bei CCP erkundete ich mit Ying die Gegend um Xujiahui und kaufte mir nach einigem Suchen einen MoFi-Router plus chinesische SIM-Karte. Von nun an war ich jederzeit und überall online, mit Handy und Tablet, und dank VPN auch mit jedem Dienst meiner Wahl. Wir kehrten im Wujie Xujiahui Park ein, einem edlen vegetarischen Restaurant, und wieder genoss ich die chinesische Gastfreundschaft. Ich war noch keine zwei Tage dort und schon hatte mich das Land in seinen Bann geschlagen. Morgen würde ich mit Ying die Sennheiser-Shanghai Concert Hall besuchen.

Darüber und über die anderen Stationen meiner Reise berichte ich in der nächsten Folge meiner Reportage.

Den zweiten Teil der Shanghai-Reportage lesen Sie in Professional audio 2/2017.