„Nachhaltiger Musikvertrieb sollte transparent und flexibel sein“

Die „Plattenfirma To Go“ bietet Vertriebs-Dienstleistungen für Bands ohne Plattenvertrag. Dazu zählt die Bestückung von Streaming- und Download-Portalen sowie der physische Vertrieb von Tonträgern. Zusätzlich ist Beratung für passende Veröffentlichungs-Strategien möglich. Im Gegensatz zum Vorurteil, mit Streaming lasse sich kein Geld verdienen, sehen sie in der Technologie durchaus Chancen für Musiker.

Von Nicolay Ketterer
Fotos: Plattenfirma To Go

„Wir kennen alle unsere Künstlerinnen und Künstler recht gut. Beratung spielt für uns eine große Rolle: Sich nicht nur einloggen und seine Sachen releasen – zumindest am Anfang steht ein Austausch.“, erzählt Thomas Mühlhoff, der gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Jonas Holland-Moritz die „Plattenfirma To Go“ betreibt. Sie bieten einen Digitalvertrieb für Künstler sowie physischen Vertrieb von CDs und Vinyl.

Vom eigenen Label zum Vertriebs-Dienstleister

2009 gründeten sie ein „herkömmliches“ Label, „Hey!blau-Records“, und boten schließlich auch den reinen Vertriebs-Service mit an, der seit 2012 separat als „Plattenfirma To Go“ existiert. Daneben entwerfen sie Druckmedien, Grafiken oder beispielsweise Gadgets für Musiker.

Mühlhoff hat Jazz- und Popgitarre in Holland studiert. Für die eigene Musik befasste er sich mit der Label-Landschaft, wie er sagt. „Musik-Business hat mich immer interessiert. Mir schien die Zeit besser in den Aufbau einer eigenen Vertriebsstruktur investiert, verglichen mit dem Aufwand, Dritte von meiner Musik begeistern zu wollen.“ Bei seinem Kollegen Jonas Holland-Moritz sei es ähnlich gewesen. Beide kennen sich seit der Schulzeit. Sie arbeiten zu zweit, haben noch einen festen Entwickler für den Kundenbereich ihrer Webseite, dazu ein Netzwerk an Produktionspartnern. „Sonst wären Angebote und Eigenentwicklungen wie spezielle CD-Verpackungen nicht seriös umsetzbar.“ Er lacht. Im Gespräch wirkt Mühlhoff von der Sache begeistert, mit Fachkenntnis und weitgehend ohne PR-Worthülsen, die im Vertriebsgeschäft Alltag sein können.

Thomas Mühlhoff ist einer der beiden Geschäftsführer von Plattenfirma To Go.

„Wir wollten, dass die Künstler selbst entscheiden können“

Wie kam der Bedarf für einen reinen Dienstleister auf? „Sobald die Pläne zwischen Label und Künstler größer werden und mehr Risikokapital und Verbindlichkeit im Spiel sind, müssen meist alle ein bisschen Mitspracherecht abgeben. Diese Philosophie haben wir nicht wirklich vertreten – wir wollten, dass Künstlerinnen und Künstler selbst entscheiden können, wie die Musik klingt, wo sie gemischt und gemastert wird, und wie das Cover aussieht. Gleichzeitig sollten sie kein eigenes Label gründen müssen, sondern uns als Partner hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit hinzuziehen können.“

Label-Code als Vorteil für die eigene Produktion

Ein Gedanke bestand darin, unkompliziert einen Label-Code nutzen zu können mit klar geregelten Bedingungen. „Der Label-Code signalisiert einem Radioredakteur, dass er die Musik aufführen kann, ohne mit den Musikern über die Vergütung für die Nutzung des Leistungsschutzrechts verhandeln zu müssen, denn das regelt die GVL [„Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten“, d. Autor] auch über den Labelcode. Für viele Redakteure ist das so, als gäbe es erst damit eine Sendegenehmigung – was Nonsens ist, aber auch Künstler glauben das. Manche Presswerke und Services werben damit, dass deren Label-Code genutzt werden darf. Es kann dabei um viel Geld gehen, daher sollte der Schritt gut überlegt sein. Unser Ansatz: Wenn wir als Vertriebs-Dienstleister schon nicht in die Produktion investieren, sollte wenigstens das Geld des Label-Codes an die Künstler gehen.“ Die Label-Code-Einnahmen würden bei ihnen komplett an die Künstler ausgeschüttet, so Mühlhoff.

„Merchbox“-Modell für physischen Vertrieb

Wie sieht der physische Vertrieb aus? Über das sogenannte „Merchbox“-Modell können CDs und Schallplatten etwa bei Amazon oder JPC für 79 Euro pro Jahr und Produkt angeboten werden. Zukünftig ist auch eine Platzierung auf dem Künstlerprofil auf Spotify vorgesehen. „Wir hatten in der Vergangenheit Verträge mit klassischen Vertrieben. Dort liegt ein Tonträger mitunter hundertfach im Lager. Man schaut sich an: Gibt es eine Tour, wird Promo gemacht? Im Zweifel werden die Tonträger per Außendienst in Stores platziert. Nicht verkaufte Tonträger werden allerdings retourniert.“ Das bezahlten die Künstler, und sei selten im Vorfeld zu kalkulieren. „Am Ende schickt der Handel Bestände zurück – sie müssen auszellophaniert und neu zellophaniert werden, dazu ein neuer EAN-Sticker. Am Ende hast du drei, vier Euro pro ausgesendete Einheit bezahlt. Wir haben beobachtet, dass für Künstlerinnen und Künstler eine eigentlich erfolgreiche Gesamtstrategie ins Minus gehen kann. Die meisten Einheiten werden bei Amazon und über JPC verkauft, also über Online-Händler. Wenn du 300 Einheiten über Online-Händler verkaufst, und 20 Einheiten bundesweit über Saturn – steht das in einem gesunden Verhältnis?“ Als wirtschaftliche Alternative ohne Retouren-Kosten bieten sie die Bestückung der beiden Online-Händler über den Anbieter Phononet an. „Dort kann jeder teilnehmende Händler gezielt bestellen – auch kleine Plattenläden.“

Ein Jahr Marktverfügbarkeit für 79 Euro

Was enthält die Dienstleistung konkret? „Wir lagern die Einheiten ein, verwalten den Bestand und machen das Inkasso. Du wirst informiert, wenn wir Nachschub brauchen oder wir schicken die Tonträger zurück, wenn du den Vertrag nicht mehr möchtest. Pro versendete Einheit bekommen wir 3,95 Euro. Den Verkaufspreis kannst du festlegen, beispielsweise 17,99 Euro. Künstler wissen im Vorfeld, wie viel Geld sie – abhängig vom Verkaufskanal – pro verkaufte Einheit bekommen. Bei jedem Verkauf wird der Erlös automatisch im Kundenbereich aufgebucht. Wir könnten die Tonträger mit diesem Modell auch noch ein zweites Jahr einlagern. Das ist ein Problem im klassischen Vertrieb: Verkaufst du nur vier Einheiten im Jahr, sagt der unter Umständen, ‚neh, mache ich nicht mehr‘ und kündigt dir. Für viele ist das auch psychologisch schwierig. Auch für das Booking kann es sinnvoll sein, dass ein Tonträger verfügbar ist. Ein Promoter kann unserer Erfahrung nach auch effektiver arbeiten – oder beginnt überhaupt erst – wenn Tonträger verfügbar sind.“

Weiterer Schwerpunkt: Digitalvertrieb

Beim Digitalvertrieb bieten sie eine „Release-Flatrate“ für 119 Euro im Jahr an, auf allen gängigen Streaming- und Download-Plattformen, samt Spotify, Apple Music oder YouTube Music. Das eignet sich besonders für aktive Bands, betont er. „Du kannst so viel Musik veröffentlichen, wie du möchtest. Nicht deinen Back-Katalog, sondern künftige Releases. Hat jemand die letzten Jahre 40 Alben rausgebracht, können wir die nicht für 119 Euro mal eben überall veröffentlichen. Dafür erstellen wir ein individuelles Angebot. Generell bekommst du Zugang zu allen uns verfügbaren Plattformen, und 100 Prozent der Erlöse. Abhängig von deiner Rechtsform müssen wir höchstens die Künstlersozialabgaben an die Künstlersozialkasse abführen.“ Für eine einmalige Gebühr von 49 Euro kann ein zweiter Interpret – etwa ein Zweitprojekt des Musikers – im Account verwaltet werden.

Kurze „Bewerbung“ als Erstkontakt

Was müssen interessierte Künstler beachten? „Üblicherweise findet der Erstkontakt über unsere Internet-Seite statt, mit zwei, drei Sätzen über sich und die Art der Musik. Können wir diese Musik vertreten, oder hat sie beispielsweise rechtsradikale oder frauenverachtende Tendenzen? Das zweite: Wie ist die Kommunikation? Daraus können wir ableiten, wie eine Zusammenarbeit funktioniert. Kann jemand gar nicht E-Mails schreiben und ruft überstürzt oder kleinteilig an, wird er mit unserem System vermutlich nicht glücklich werden – dann müssten wir uns überlegen, ob und wie das Sinn macht. Anschließend schlagen wir etwas vor: Willst du sofort einsteigen und deine Musik für den Digitalvertrieb übermitteln? Hast du CDs schon gepresst, oder können wir dich dahingehend noch mit Label-Code oder einer EAN-Nummer – ein Strichcode, damit das Produkt in den Datenbanken dieser Welt teilnehmen kann – unterstützen? Ist deine Musik schon gemastert, hast du deine ISRCs [„International Standard Recording Code (ISRC) – digitale Kennung zur eindeutigen Identifikation etwa in Online-Datenbanken, d. Autor] schon?“

„Wenn die Musik noch nicht gemastert und das Design noch nicht im Druck ist, können wir diese Möglichkeiten zu deinem Vorteil einbringen, was nichts zusätzlich kostet. Das ist die Faszination an dem Geschäft: Keiner weiß, was mit deiner Musik passiert. Wahrscheinlich ist es eine gute Idee, wenn deine Veröffentlichungen nach außen hin handelsüblich und professionell aussehen, ohne Einschränkungen. Stell dir vor: Ein Redakteur ist ein Fan, will den Song spielen – sei es auch nur einmal – aber er macht es nicht, weil der Label-Code fehlt. Daher lohnt es sich, vor der Pressung dafür zu sorgen.“

Für den physischen Vertrieb lagert die „Plattenfirma To Go“ das Produkt gegen eine Jahresgebühr ein und macht es ein Jahr lang dem Markt – darunter Amazon und JPC – zugänglich.

Beratung als kostenpflichtiger Zusatzservice

Zusätzlich begleiten sie Veröffentlichungen bei Bedarf mit Beratung. Die Einschätzung sei komplex, daher sei der Service kostenpflichtig, der Preis variiere nach Aufwand. „Wenn wir wissen, was ihr für eine Band seid und was ihr wollt, empfehlen wir im Rahmen unserer Beobachtungen passende Strategien. Dabei kann auch herauskommen, dass du noch nie eine Anzeige bei Instagram geschaltet hast, das aber eigentlich möchtest. Dann könnten wir jemanden vorschlagen, mit dem du eine Strategie entwickeln kannst, oder du machst das mit uns, wenn die Kapazitäten passen.“ Sucht ein Künstler einen Promoter, prüft die Plattenfirma To Go beispielsweise, ob sie in dem Genre mit jemandem aus ihrem Netzwerk gute Erfahrungen gemacht hat. „Wir wollen helfen, dass unsere Künstlerinnen und Künstler eine gute Entscheidung treffen können.“

Ziele formulieren für den messbaren Erfolg

Generell gehe es um die Frage, was ein Künstler erreichen will. „Das Ziel kann sein, möglichst viele Streams zu generieren – oder: Streams sind mir egal, ich will mehr Reichweite auf Instagram. Booking kann im Vordergrund stehen. Oder ich will einmal ein Interview bei Deutschlandradio Kultur – es kann alles sein.“ Die Zielformulierung sei bereits ein großer Wert, „weil sie die Künstler und Künstlerinnen zwingt, sich diese Gedanken zu machen. Nur dann lässt sich die Zusammenarbeit am Ende bewerten. Es ist nicht schlimm, wenn es nicht funktioniert hat – aber dann möchte man wissen, was sich beim nächsten Mal ändern lässt.“

Im Elektro-Bereich nutzt beispielsweise der Künstler Martin Hübner die„Plattenfirma To Go“.

Streaming für Nischen-Künstler

Zurück zum Streaming: Das Abrechnungsmodell habe seine Eigenarten, und manche Kritik sei nachvollziehbar, erklärt Mühlhoff. Pro Stream werden derzeit bei Spotify rund 0,003 Euro vergütet. Ein „Artist-Centric-Modell“, wie es beispielsweise SoundCloud anbietet, soll Abhilfe schaffen. „Vereinfacht erklärt: die Künstlerinnen und Künstler, die ein User am liebsten hört, bekommen auch mehr Erlöse von diesem User.“ Spotify habe dennoch auch positive Seiten: „Du hast bei Spotify beispielsweise die monatlichen Hörer. Wenn die Zahl organisch gewachsen ist, kannst du im Folgemonat von einer ähnlichen Anzahl ausgehen. Du kannst also mit Einnahmen planen. Mit 500.000 monatlichen Hörern bei Spotify – ob realistisch oder nicht – könntest du mit den anderen Plattformen zusammen geschätzt 3.000 oder 3.500 Euro Streaming-Erlöse im Monat umsetzen, wenn nicht mehr.“ Monatliche Hörer streamen unter Umständen deutlich mehr als einen Song, gibt er bei der Kalkulation zu bedenken. „Auf ein passendes Ziel könntest du dann dein Promo-Budget abstimmen.“ Das könne nachhaltig sein – falls die Plattform zur Musik passt und man es schaffe, die Hörer zu erreichen. „Viele machen einfach eine Single oder ein Album. Wenn die Frage aufkommt, wie viel sie für das Projekt bereit sind, die nächsten fünf Jahre zu arbeiten, sind sie sich unsicher. Das kann ich nachvollziehen. Aber sie sind auch für klassische Labels eventuell uninteressant, weil die auch ins Risiko gehen und wissen wollen, ob sich der Aufbau langfristig lohnt.“

Ebenfalls im Portfolio: der Jazz-Pianist Igor Zavatckii.

Spotify-Algorithmen: Das Medium beeinflusst die Musik

Wie hat sich die Verbreitung von Musik durch Streaming verändert? „Dank Streaming sind Musikhörer selbst zu ‚Tastemakern‘ geworden und können durch kuratierte Playlisten die Reichweite von Werken wie nie zuvor erhöhen, wie es nie vorher möglich war. Das kann Algorithmen beeinflussen, sodass Spotify und andere Plattformen Usern die Musik vorschlagen. Playlisten können helfen, weltweit neue Fans zu finden.“ Spotify beeinflusst auch die Musikproduktion: Aktuell rechnet der Dienstleister einen Stream nach 30 Sekunden Spielzeit komplett ab, unabhängig von der Gesamtlänge des Songs – weshalb manche sehr kurze Stücke produzieren, um viele Streams im Rahmen eines Albums zu generieren. Lohnen sich statt kurzer Kompositionen spezielle Edits für die Plattform, wie früher ein „Radio Edit“ für den Rundfunk? „Unbedingt! Ich wünschte mir, Künstler würden den Streaming-Formaten nicht zu viel Raum geben. Schlau ist es, wenn man gut authentisch mitspielen kann, zu seinem Vorteil die algorithmischen Auswirkungen nutzt, aber am Ende Limited Edition Vinyl verkauft – oder welches Medium auch immer gerade passt.“

Die „Riders Connection”: World-Pop-Künstler, die von der „Plattenfirma To Go“ betreut werden.

5.000 Fans sollten reichen…

Am Ende zieht er ein hoffnungsvolles Fazit: „Bands haben heute viel mehr Freiheiten und brauchen weniger Gesamtumsatz, um in die Gewinnzone zu kommen. Meiner Einschätzung nach sollten 5.000 echte Fans weltweit reichen, um nachhaltig eigene Musik machen zu können. Neben Streams musst du überlegen, was du deinen Fans verkaufst – ob Konzerte, digitale Veröffentlichungen, Gadgets, Tonträger, oder einmalige Aktionen. Viele bieten Login-Bereiche mit zusätzlichem Content, sie machen spezielle Events mit ihren Fans, … Das ist abgefahren, dass du auf einmal die Möglichkeit hast, vielleicht nur von 5.000 echten Fans zu leben. Und für die wiederum brauchst du nicht auf Playlisten optimiert veröffentlichen – sie hören sich auch deine Acht-Minuten-Tracks an. Du kannst mit Nischenmusik auf einmal Geld verdienen. Das ist auf seine Art auch nachhaltig.“