Weg vom Kopfjazz?
Das deutsch-schwedisch-kubanische Tingvall Trio setzt mit Piano, Kontrabass und experimentellem Schlagzeug auf Spiellaune und Atmosphäre. Im Konzert zeigen die drei Musiker, dass Jazz spannend und zugleich angenehm sein kann.
Von Nicolay Ketterer (Fotos von N. Ketterer, R. Dombrowski)
Die spärliche Bühnenbeleuchtung wirkt nahezu heimelig in der halb industriellen, halb atelierhaften kleinen Halle. Bestuhlte Reihen werden links von Stehtischen flankiert, flackernde Teelichter sorgen für gefühlte Wärme. Dass es sich bei dem Veranstaltungsort in Mannheim ursprünglich um eine Feuerwache gehandelt hat, daran erinnern in dem rechteckigen, langen Raum höchstens die Pflastersteine am Boden und die Betonwände, vielleicht noch ein paar Belüftungsrohre aus Metall. 1975 rückte hier der letzte Löschzug aus, sechs Jahre später entstand in den Räumlichkeiten ein Kulturzentrum. Vor knapp zehn Jahren wurde das ganze professionalisiert, seitdem gilt die Alte Feuerwache als überregional bekannte Konzert- und Veranstaltungsstätte.
Heute ist das Tingvall Trio zu Gast, eine Jazz-Truppe bestehend aus Piano, Schlagzeug und Kontrabass um den Pianisten Martin Tingvall, der die rein instrumentale Musik der Band komponiert. Seit 2003 spielen die Musiker – Tingvall aus Schweden, Kontrabassist Omar Rodriguez Calvo aus Kuba und Schlagzeuger Jürgen Spiegel aus Hamburg, der Heimat der Band – zusammen. Sie haben mittlerweile das fünfte Studio-Album „Beat“ veröffentlicht. Ein Teil der Verkaufserlöse von CD und LP werden an das „Kiptown Youth Program“ in Südafrika gespendet, mit dem Kinder und Jugendliche gefördert werden.
„In dem Moment, wo ich Statuten erhebe, was richtig oder falsch ist, grenze ich Emotionen aus.“
Die Band ist weltweit unterwegs, hierzulande sind sie mittlerweile erfolgreich in der Szene, kämpfen dennoch mit dem Stigma des Jazz. Das Trio umgeht mit seinen atmosphärischen Piano-Kompositionen die ungeschriebene Regel, besonders innovativ mit Jazz umzugehen. Das Ergebnis hat die Süddeutsche Zeitung als Reaktion auf das aktuelle Album ambivalent zusammengefasst: Das sei für viele wunderbare Instrumentalmusik, für andere zahnloses Geklimper. „Um in Deutschland Anklang zu finden, muss etwas zunächst schwer und kompliziert sein, jemand muss gelitten haben. Es kann nicht einfach gut sein, weil es schön ist“, erläutert Jürgen Spiegel die Problematik. Das lasse die intellektuelle Interpretation nicht zu. „Das ist auch der Schlüssel, warum wir im Ausland besser Fuß fassen als andere Künstler: Wir gehen unbeschwert an die Musik heran und denken nicht darüber nach.“ Vieles sei Bauchgefühl beim Musikmachen. „In dem Moment, wo ich Statuten erhebe, was richtig oder falsch ist, grenze ich Emotionen aus.“ Der studierte Musiker beschreibt seine eigene Erfahrung mit der Jazz-Szene: „Beim Jazzstudium musste ich ‚Scrapple From The Apple‘ aus dem Jahr 1947 vorspielen.“ Die Bebop-Komposition von Charlie Parker gehört zu den alteingesessenen Standards. „Progressivere Stücke, etwa aus den 1970er Jahren, waren verpönt. Die Leute werden nur bis zu bestimmten Horizonten ausgebildet.“ Das Image von Jazzmusik in Deutschland? Er singt schnelle Tonfolgen vor. „Da denken die Leute: ‚Das ist Jazz. Das will ich nicht. Das macht mich krank.‘ In Holland oder Frankreich ist die Assoziation anders.“ Dort werde Jazz eher als Stilistik wahrgenommen, die durchaus angenehm klingen könne. „Das braucht hier Zeit und auch Mut, und das wird immer mehr. Das finde ich super.“
„Im Rockbereich haben manche Songs nur geringe Informationsdichte. Wer dabei nicht rockt, wird umgehend entlarvt.“
Musikalische Qualität wird laut Spiegel völlig unterschiedlich bewertet: „Im Rockbereich haben manche Songs nur drei Akkorde, die Informationsdichte ist gering. Wer dabei nicht rockt oder sich ausdrückt, wird umgehend entlarvt. Wenn eine Band ‚Back in Black‘ von AC/DC covert, weiß man nach acht Takten, ob es gut funktioniert. Dann bewegt man den Kopf dazu.“ In anderen Genres könne man sich noch hinter Technik verstecken. „Bei sehr schnellem Jazz mit vielen Instrumenten ist die musikalische Leistung nicht unmittelbar erkennbar.“ Den direkten Zugang zu Jazz zu ermöglichen, eine „Pipeline“ zum Zuhörer zu sein, ohne musikalisch ins Belanglose zu verfallen, sagt er, sei ein schönes Ziel.
Spiegel spricht oft von „Ehrlichkeit“, wenn es um die Performance geht. Live setzt das Trio den Sound seines Akustik-Setups möglichst minimalistisch um, die Musiker bringen nach Möglichkeit ihre eigenen Instrumente mit, bis auf den Flügel. Generell sei die Herangehensweise abhängig vom Raum und den gestellten Instrumenten: „Manche Klaviere haben Schwierigkeiten in einzelnen Lagen, die liefern im Bass sehr viel, in den Mitten nichts und klirren in den Höhen. Das kann Probleme machen, wenn bei der Verstärkung nur standardmäßig die Bässe abgesenkt werden. Das ist das Gemeine an akustischen Instrumenten: In jeder Live-Situation fangen wir von Null an.“ Spiegel hat sein altes, zusammengewürfeltes Gretsch-Schlagzeug dabei, mit einer 18-Zoll-Bassdrum. „In großen Räumen wird das Schlagzeug komplett abgenommen, sonst nur Overheads und Bassdrum“, erzählt er. „Manchmal lasse ich das Schlagzeug fast komplett unverstärkt, weil es im Raum ausreichend trägt, und stütze es lediglich mit Overheads, damit es nicht zu dumpf klingt.“ Sein Set liefere einen verlässlichen Sound, der auf der Bühne gut funktioniere. „Der absolute Jazz-Frevel ist das Loch im Frontfell“, lacht er. Akustisch liefert er damit eine Mischung aus Pop-Kick und tonalem Jazz-Sound. Neben seinem ästhetischen Empfinden dient der „Tabubruch“ der Live-Praxis. „Viele FoH-Techniker haben Probleme mit einem geschlossenen Resonanzfell. Deshalb habe ich mich entschlossen, einen fertigen Sound zu liefern, mit dem man leicht arbeiten kann.“
Das größte Problem bei der Live-Abnahme? „Das Klavier. Wenn ich den Deckel aufmache, entstehen Reflexionen, der Flügel hat viel Kraft. Weil der Klang zurückgeworfen wird, kann ich die Mikrofone höher ansetzen. Das Ergebnis klingt breiter und räumlicher. Bei Instrumenten, die sehr ‚bissig‘ klingen, muss der Deckel allerdings etwas geschlossen werden. Bei halboffenem Deckel kann der FoH-Mann auch ergänzend einen künstlichen Hallraum auf den Flügel legen, aber das hat oft nichts mehr mit der natürlichen Raumästhetik zu tun.“ Ein geschlossener Deckel wiederum bedeutet reduzierte Feedback-Anfälligkeit und geringeres Übersprechen von Schlagzeug und Bass. Das biete sich an, wenn der Flügel überhaupt keine Kraft vermittle, erklärt Spiegel. „Wenn die Bühne unter dem Bühnenboden hohl ist, beeinflussen Resonanzen die Mikrofonierung.“ Da müsse man den Deckel „dicht machen“, damit mehr Direktheit vom Flügel abgenommen wird. Praktische Problemlösung: „Wenn die Bühne wackelt, muss man schauen, dass die Mikrofonständer nicht klappern, und Tücher dazwischen legen.“ Ein weiteres, gerne vernachlässigtes Element sei die Aktualität der Stimmung. „Ein gut gestimmter Flügel hat Kraft. Wenn er die Stimmung langsam verliert, schwingt er in sich nicht richtig und verliert Energie. Deswegen sollte direkt nach dem Soundcheck der Flügel gestimmt werden.“
Apropos Soundcheck: „Die ersten drei Minuten des ersten Songs dienen zur Orientierung. Da sollte man ein Lied aussuchen, das dem FoH-Mann die Möglichkeit gibt, sich zu orientieren, ein Song, der das Spektrum der Band abdeckt. Wenn ich eine Ballade spiele, bei der nichts passiert, und später eine Power-Nummer kommt, dann kippt der FoH-Mann aus den Latschen, wenn er die Band nicht kennt.“
Thilo Klag ist in der Alten Feuerwache der technische Leiter und FoH-Mann. Zur Mikrofonierung des Pianos setzt er zwei DPA d:vote 4099 in AB-Anordnung ein. Sein Konzept: Ran ans Instrument, um mit entsprechenden Mikrofonen einen relativ breiten Sound zu erreichen. „Bei manchen Mikrofonen würde die Positionierung nur einen Teilbereich des Instruments abdecken, aber mit der breiten Niere der DPAs funktioniert es gut.“ Als Ergänzung verwendet Klag zwei Yamahiko-Tonabnehmer. „Mit den zusätzlichen Pickups bekomme ich einen volleren Klang, ohne das Ergebnis verbiegen zu müssen. Bass- und Mittentöne können die Mikrofone manchmal schwer einfangen, vor allem bei geringem Abstand zum Instrument.“ Der Flügel ist beim Konzert geöffnet. Unter der Bühne liegen Subwoofer, das erschwert die Abnahmesituation, denn „mit Mikrofonsignalen alleine treten schnell Rückkopplungen auf.“ Die Yamahiko-Tonabnehmer seien auch in der Handhabung und Montage unkompliziert. „Wenn ein FoH-Mann in einem 100.000 Euro-Flügel Tonabnehmer verkleben will, bekommt der Besitzer einen Anfall“, erläutert er die Problematik vieler Tonabnehmermodelle. Der Yamahiko-Tonabnehmer wird auf einem Distanzblock auf der sogenannten Raste des Pianos unter den Resonanzboden geklemmt, wobei der Pickup ihn leicht berührt. Zur passenden Befestigung liefert der Hersteller verschiedene Distanzblöcke.
Am Kontrabass befindet sich ebenfalls ein DPA d:vote 4099-Mikrofon am Steg, zusätzlich ein Pickup, der den Verstärker speist, welcher wiederum per DI abgenommen wird. „Das Prinzip ist ähnlich wie beim Piano: Der Pickup alleine klingt unnatürlich und nicht offen genug. Ich brauche ihn allerdings, um den Bass-Bereich zu füllen.“
Beim Schlagzeug erfordern die räumlichen Gegebenheiten eine komplette Abnahme, da der akustische Gesamteindruck laut Klag nur bis zur Hälfte der Halle tragen würde. An der Haupt-Snare setzt er ein Shure SM-57 ein, die zweite Snare nimmt er nur gemeinsam mit der Hi-Hat über ein Neumann KM-184 ab, weil die Snare durch ein aufgeklebtes Splash-Becken lediglich einen Effektsound liefert. Als Overheads dienen zwei AKG C-414 Großmembraner. An den Toms setzt er Shure Beta 56-Modelle ein. „Bei weniger Tom-lastigem Spiel hätte ich auf die Tom-Abnahme verzichtet, da die AKG- Overheads die Anteile sehr gut einfangen.“ Direkt abgenommen wirke das Tom-Ergebnis allerdings kräftiger und definierter im Bass-Bereich.
Ortbarkeit
Die Ortung im Stereobild gestaltet er entsprechend der Bühnenposition: Den Kontrabass mittig, das Schlagzeug leicht rechts. „Das liegt daran, dass sehr viel Bühnensound vom Schlagzeug kommt. Das wollte ich nicht überlagern.“ Das Schlagzeug steht seitlich gerichtet auf der Bühne, sogar leicht nach hinten eingedreht. „Bassdrum und Snare liegen in der Stereomitte, aber wenn er die Hand nach rechts genommen hat, war das auch stärker auf der rechten Seite zu hören.“ Die akustische Abbildung entspricht also dem Blickwinkel des Publikums. Er müsse immer abwägen, meint Klag: „Wenn der Schlagzeuger leise ist, kann ich ihn stärker auf die PA legen und dem Publikum vermitteln, dass das Klangbild mehr in die Breite, über die gesamte Anlage verläuft. Wenn der Schlagzeuger wie heute eher laut ist, dann unterstütze ich lieber die optische Positionierung.“
Beim Klavier gestaltet sich die Frage der Positionierung im Panorama schwieriger, weil es die Harmonien der Songs liefert. „Das Schlagzeug kommt auch auf der linken Seite beim Publikum an, vielleicht zeitlich etwas versetzt. Beim Klavier spart man bei extremer Anordnung Teile des Publikums aus.“ Es sei eine Frage der Mix-Philosophie. „In einem breiten Zuschauerraum könnte ein Großteil des Publikums die Stereo-Bewegungen nie verfolgen. Nur ein paar Leute in der Mitte. Die anderen ließe man im Regen stehen.“ In dieser Hinsicht habe der schmale „Schlauch“-Raum der Alten Feuerwache seine Vorteile. Der Nachteil: „Es dauert ewig, bis hinten etwas ankommt.“
Sound-Ergänzung
Klag will die vorhandenen Signale nach Möglichkeit nutzen, ohne viel am Equalizer zu verbiegen, erzählt er. „Alle drei sind fantastische Musiker, da muss ich nicht viel ausgleichen.“ Die Halle sei nicht gebaut für akustische Klangästhetik, der Nachhall klinge aber relativ natürlich. Nicht Hi-Fi, wie er sagt, dafür atmosphärisch zuträglich. Die Snare hat er etwas „aufgehellt“ und einige Signale mit einem Low-Cut versehen, außer Bassdrum und Bass, um der Beschallungssituation gerecht zu werden und wummernde Resonanzen und Feedbacks zu vermeiden. „Ich könnte auch die Subs im Pegel zurücknehmen, sodass die PA weniger basslastig klingt. Wenn aber im Konzert eine Situation entsteht, in der Bass-Impulse deutlicher wahrnehmbar sein sollen, kann ich nicht mehr darauf reagieren. Stattdessen senke ich lieber die Bässe in den Einzelsignalen ab. Bei Bedarf gebe ich dann Bass im EQ dazu oder verzichte auf den Low-Cut.“
Konzert
Knapp 400 Zuschauer lauschen am Abend dem Tingvall Trio. Die Musik zeigt, dass harmonischer Jazz nicht zwingend nur gefällig sein muss. Die harmonischen Strukturen werden oft von komplexen rhythmischen Mustern überlagert, dabei steht das Schlagzeug im Vordergrund. Spiegel liefert mit Percussion-Effekten und der Idee, alles am Schlagzeug – auch Beckenständer – zu integrieren, das Schlagzeug als Einheit. Ob die ausgeprägte Schlagzeugdichte auf Dauer gefällt oder nervt, ist Geschmackssache. Bassist Omar Rodriguez Calvo spielt meist zurückhaltend, dringt am Kontrabass gelegentlich sogar in Cello-Lagen vor. Ungewöhnlich und gleichsam sympathisch ist, dass sich Frontmann Martin Tingvall am Piano zu Gunsten seiner Kollegen weitgehend zurücknimmt. Sein Flügel klingt ausgewogen, authentisch – fast „akustisch“.
Das Gesamtergebnis klingt geschäftig, manchmal hypnotisch, in seiner Wirkung eher Bauch- als Kopfjazz. Dabei wirken besonders die leisen Passagen atmosphärisch stark, Smooth-Jazz-Minimalismus wird allerdings lediglich kurz angedeutet. Das Trio spannt mühe- wie zwanglos fließende Dynamikbögen, ohne die Verkniffenheit mancher Jazz-Konservativer oder zwanghafte Modernisierung. Die Musik wirkt deutlich lebendiger als auf CD, den gemeinsamen Spielspaß merkt man den Musikern in jedem Moment an. Zwischen den Stücken liefert Pianist Tingvall kurze, aber unterhaltsame Moderations-Schnipsel, spricht vom „fantastischen Schlagzeuger“ und „mittelmäßigen Kontrabassisten“, wohl wissend, auf welch hohem Niveau sich beide bewegen. In Erinnerung bleibt keine elitäre, sondern eine anspruchsvolle Veranstaltung, bei der es nicht um übersteigerte Selbstdarstellung geht. Bei dem Trio herrscht – zum Glück – das Dogma reiner Spielfreude.
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