(Audio-)Teilchenbeschleuniger

Nur wenige Monate nach Erscheinen von Pro Tools 9, das mit seiner Freiheitsoffensive in puncto Audio-Hardware viele User in helle Aufregung versetzte, trumpft Avid schon mit dem nächsten Major-Update der beliebten DAW-Software auf und wirbt mit verbesserter Performance und erhöhtem Workflow. Ob Pro Tools 10 damit ähnliche Jubelstürme auslöst wie bei der Vorversion und für wen sich das Update lohnt, haben wir für Sie herausgefunden.

Von Carina Schlage

Stand Pro Tools 9 (siehe Test in Heft 6/2011) ganz im Zeichen unbegrenzter Freiheit bei der Verwendung von Audio-Hardware sowie einer markanten Aufstockung der Grundausstattung, markiert Pro Tools 10 jetzt den konsequenten nächsten Schritt: Leistungsfähigkeit, Performance und Workflow auf Basis der Vorversion sind die Schlagwörter, die offensichtlich als nächstes auf der Optimierungs-Agenda der Entwickler standen. Konzeptionell betrachtet wirkt Pro Tools 10 damit wie Phase zwei einer mit Pro Tools 9 begonnenen umfangreichen Modernisierung. Die Software wurde nicht nur um eine Reihe neuer, wertvoller Funktionen erweitert, die sich viele Anwender schon lange sehnlich gewünscht haben. Überdies haben die Entwickler dem DAW-Flaggschiff auch eine völlig neue Disk- und Cache-Engine spendiert, mit der die Speicherverwaltung deutlich optimiert wird und deren Fähigkeiten Großes verspricht. Gleichzeitig stellt Pro Tools 10 auch einen Wendepunkt dar und zwar in dreifacher Hinsicht: Zum Einen ist es die letzte Version, welche die bisherigen HD-Process- oder -Accel-Karten mit den entsprechenden Interfaces unterstützt. Gleiches gilt auch für die Avid-Interfaces Digi003 und die nunmehr altgediente Mbox2. Die HD-Hardware wird demzufolge zukünftig durch den Nachfolger HDX abgelöst. Der technische Support der alten Systeme wird laut Avid jedoch für die nächsten drei Jahre fortgesetzt.

Zweitens werden auch die beiden Plug-in-Formate RTAS und TDM durch das neue Format AAX abgelöst, welches Avid ebenfalls mit Pro Tools 10 einführt (siehe Kasten). Drei neue AAX-Plug-ins liefert Avid dabei gleich mit (siehe Kasten). Zum Dritten müssen PC-Nutzer zwingend auf Windows 7 umstellen, da es das einzige Microsoft-Betriebssystem darstellt, das offiziell und ausweislich unseres Tests Pro Tools 10-kompatibel ist. XP und das ohnehin für Audio-Zwecke eher weniger geeignete Vista haben in Sachen Pro Tools also endgültig ausgedient. Für Mac-User empfiehlt sich das Update auf  OS X 10.7. („Lion“), da dieses offiziell von Avid unterstützt wird. Zu Mac OS X 10.6.7 beziehungsweise 10.6.8. („Snow Leopard“) ist das neue Pro Tools jedoch weiterhin kompatibel. Eigentlich wäre von Avid auch hinsichtlich 64 Bit eine Zäsur zu erwarten gewesen, immerhin sind einige Konkurrenzprodukte, wie zum Beispiel Steinberg Cubase/Nuendo oder Cakewalk Sonar und nicht zuletzt auch aktuelle Betriebssysteme schon länger als 64 Bit-Versionen erhältlich. Pro Tools 10 ist jedoch nach wie vor ausschließlich eine 32-Bit-Anwendung. Das mag zunächst enttäuschen. Allerdings ist der Grundstein für den vollständigen Umstieg auf 64 Bit im nächsten Major-Update bereits an allen entscheidenden Stellen in Pro Tools 10 gelegt, wie uns Avid Pro Audio-Spezialist Lars Kischkel versichert. So kann die neue Disk Engine beispielsweise weit über vier Gigabyte RAM adressieren. Auch das neue AAX Plug-in-Format ist bereits für den Betrieb in 64 Bit vorbereitet. So gesehen, stehen auch bei Avid alle Zeichen auf 64 Bit. Der Umstieg erfolgt jedoch schrittweise und, wie es scheint, sehr durchdacht, was die anfängliche Enttäuschung glücklicherweise relativiert.  Im Hinblick auf die Audio- und MIDI-Quantitäten, sprich: die Spurenanzahl, hat sich nicht allzu viel verändert. So bietet Pro Tools 10 zunächst einmal die gleiche Grundausstattung wie sein Vorgänger: 96 Voices (bei 44.1/48 kHz), 128 Aux-Kanäle, 512 MIDI- und 64 Instrumenten-Spuren. Das Complete Production Toolkit (CPT) dagegen stellt im Vergleich zu Pro Tools 9 jetzt noch mehr Spuren bereit: 256 Voices (von vormals 192), 512 statt 160 Aux-Kanäle und insgesamt 768 Tracks (vormals 512). Was die Spuren und Voices betrifft, bietet  Pro Tools im Verbund mit dem Complete Production Toolkit somit interessanterweise dieselben Möglichkeiten wie ein natives oder DSP-gesteuertes HD-System, deren Kapazitäten sich auf die gleiche Spuranzahl erhöhen. Noch besser: Das konventionelle HD-System mit entsprechender HD-Hardware bietet mit seinen maximalen – Hardware bedingten – 192 Voices diesbezüglich sogar erstmalig deutlich weniger Möglichkeiten. Welches Pro Tools-System es für den einzelnen Anwender zukünftig sein soll ist neben der gewünschten Grundausstattung und dem angestrebten Einsatzbereich nicht zuletzt auch eine Frage des Preises: Pro Tools 10 kostet in der Grundausstattung 677 Euro, das Upgrade von der Vorversion ist für 260 Euro zu haben. LE- und M-Powered-User können für 427 Euro crossgraden. Die HD-Version ist bisher nur als Upgrade erhältlich. Dieses schlägt dafür mit dem bisher teuersten Update-Preis ordentlich zu Buche: satte 867 Euro werden für die Aktualisierung von HD 9 fällig. Ein happiger Preis, den wir nicht wirklich nachvollziehen können. Das Complete Production Toolkit ist mit 1783 Euro ebenso recht kostenintensiv, seine Anschaffung lohnt jedoch vor allem für professionelle Pro Tools-Anwender ohne HD-System, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Die zunächst auffälligste Veränderung in Pro Tools ist eine, mit der wohl die wenigsten Anwender gerechnet haben dürften: Pro Tools 10 spricht zum ersten Mal deutsch.

Doch was des einen Freud, ist des anderen Leid: Viele eingefleischte Anwender, die nicht nur des Englischen mächtig sind, sondern sich auch über Jahre an die – zum Teil recht kryptische – Sprachführung in Pro Tools gewöhnt haben, dürften angesichts der umfangreichen Übersetzung eher irritiert als erfreut sein, nicht zuletzt bei Verwendung Pro Tools-spezifischer und entsprechend beschrifteter Tastaturen.  Wer sich jedoch partout nicht mit den deutschen Befehlen und Menüs anfreunden möchte, kann die Eingabesprache ganz einfach im Preferences-, Verzeihung, Voreinstellungs-Menü umschalten. Ein deutsches Handbuch ist bedauerlicherweise bisher nur für Pro Tools 9 verfügbar. In Bezug auf die Pro-Tools-Terminologie gibt es aber noch eine weitere, nicht ganz unwesentliche Neuerung: Im Rahmen des Avid Re-Brandings wurden einige wichtige Bezeichnungen abgeändert, hauptsächlich um die Kompatibilität zwischen Pro Tools und der aus dem gleichen Hause stammenden Videobearbeitungssoftware Media Composer zu optimieren. So heißen die altbewährten Regions beispielsweise ab sofort Clips, aus Region List und Region Groups werden folglich Clip List und Clip Groups oder, um konsequent zu bleiben, Clip Liste und Clip Gruppen. Die Edit Selection Start- und End-Marker wurden in In- und Out-Point umbenannt, der Process-Befehl in der AudioSuite findet sich wiederum jetzt unter der Bezeichnung Rendern. Eine verhältnismäßig große Brücke schlägt Pro Tools 10 gleich am Anfang einer Audio-Produktion, nämlich über den bisher recht tiefen Graben der Datenkompatibilität: Ab sofort ist die Software nicht nur in der Lage, verschiedene Audio-Formate wie wav oder aiff in ein und derselben Session zu verarbeiten, sondern sie kann auch erstmals mit Stereo-Dateien, sogenannten Interleaved-Files, souverän umgehen. Das lästige zeit- und speicherintensive Konvertieren von Interleaved- in Multi-Mono-Files gehört somit endlich der Vergangenheit an. Sowohl das Audio-Format, indem Pro Tools neue Files erstellt, als auch die Bitrate kann nun bei geöffneter Session problemlos umgeschaltet werden – ein Ding der Unmöglichkeit in früheren Versionen. Darüber hinaus unterstützt Pro Tools nun auch Files mit 32-Bit Fließkomma Wortbreite und schließt damit in Sachen Kompatibilität und Flexibilität endlich zur Konkurrenz auf. Last but not Least nutzen diese Erweiterungen ja auch der Interoperabilität mit den anderen hauseigenen Software-Produkten. Zu den wichtigsten neuen Editing-Funktionen in Pro Tools 10 gehört zweifellos das so genannte Clip Gain beziehungsweise genauer bezeichnet: die Clip-basierte Lautstärke-Regelung. Mit deren Hilfe können Pegelanpassungen einzelner Passagen direkt am Clip vorgenommen werden, unabhängig von der Lautstärke-Automation der jeweiligen Spur und noch vor jeder weiteren Signalbearbeitung (Details hierzu finden Sie im Kasten auf Seite 22). Bisher waren solche Pegelanpassungen nur mit Hilfe der Lautstärke-Automation oder über destruktives Einrechnen via AudioSuite Gain-Plug-in möglich – ein unerfreulicher Umstand für viele Anwender, denn immerhin zählt präzises Pegelanpassen und Angleichen verschiedener Clips nicht nur beim Mischen, sondern auch während des Editings zum Alltagsgeschäft. Mit Clip Gain implementiert Avid also ein wertvolles Feature, das nicht nur den Editing-Workflow deutlich optimieren kann. In Bezug auf Funktionalität und Praktikabilität ist das Feature erfreulich gründlich durchdacht und bietet eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten.

So können Sie beispielsweise Pegelschwankungen der Clips sehr einfach und schnell bis auf Mikro-Ebene glätten, was wiederum bewirkt, dass beispielsweise ein nachgeschalteter Kompressor wesentlich sanfter eingreift. Außerdem reservieren Sie die Automation somit vollständig für ihre eigentliche Aufgabe, das Mischen. Clip Gain hilft somit Mikro- und Makro-Lautstärke-Regelung zu trennen und unabhängig voneinander auszuführen. Unabhängig davon lässt sich die clip-basierte Lautstärke-Regelung auch einfach via Rendern- oder Konsolidieren-Befehl destruktiv in die Files einrechnen, was in bestimmten Situationen, beispielsweise beim Schnitt von Hörbüchern oder anderen Sprachproduktionen, das zeitintensive Echtzeit-Bouncen erspart. Sein volles Potenzial spielt das Clip Gain jedoch im Verbund mit dem Complete Production Toolkit oder im HD-Betrieb aus: Über zwei zusätzlich frei geschaltete Funktionen lassen sich erstellte Pegelverläufe in Automationsdaten konvertieren oder auf bereits bestehende Automationsdaten aufaddieren. Das funktioniert auch in umgekehrter Weise. Mit diesem einzigartigen Feature lässt sich somit flexibel zwischen Lautstärke-Automation und Clip-basierter Lautstärke-Regelung wechseln, was zum Beispiel beim Arbeiten mit verschiedenen Pro Tools-Versionen oder beim plattformübergreifenden Projekt-Austausch notwendig sein kann. Dafür gibt’s ein großes Lob an die Entwickler. Zu den weniger offensichtlichen, jedoch nicht minder wichtigen Neuerungen aus dem Bereich des Editings gehört auch das Handling der Fades: Diese werden nun vollständig in Echtzeit berechnet und nicht mehr als separate Files abgespeichert. Folglich hat damit auch der Fade File-Ordner ausgedient. Die Zeiten, in denen nicht nur die Software, sondern auch der Anwender mit einem teils riesigen Wust an Fade-File-Schnipseln hantieren musste – von zeitraubenden Kopier- und Ladevorgängen einmal ganz abgesehen – , sind mit Pro Tools 10 ab sofort passé. Dabei ändert sich für den Anwender im Umgang mit den Fades nichts. Allerdings wirken sich die Echtzeitberechnungen sehr wohl auf das Hintergrundgeschehen aus: Denn ab sofort vereinfacht sich das Dateimanagement, während sich gleichzeitig auch das Datenaufkommen reduziert. Logische Konsequenz: Die Festplattenperformance verbessert sich dadurch signifikant. Trat noch in Pro Tools 9 bei der Arbeit an einem umfangreichen Projekt mit hunderten von Schnitten und Fades der typische Effekt auf, dass die Reaktionsgeschwindigkeit des Systems zunehmend nachließ, das Projekt also auf Grund der steigenden Menge an zu verarbeitenden und wiederzugebenden Fade-Files respektive Clip-Schnipseln unter Umständen immer langsamer wurde, so ist davon in Pro Tools 10 nichts mehr zu spüren.
Vielmehr kommt während der Bearbeitung desselben Schnitt- und Fade-intensiven Projekts im Test mit Pro Tools 10 richtiggehend Begeisterung auf, angesichts der stets gleich bleibenden Systemreaktion und Performance. Bemerkenswerter Nebeneffekt: Zusätzlich verkürzen sich auch die Session-Ladezeiten deutlich. Dasselbe PC-System scheint also auf Grund dieser optimierten Ressourcenverwaltung in Pro Tools 10 einen regelrechten Leistungsschub zu erhalten. So muss sich der Anwender künftig weitaus weniger Sorgen um Festplattenperformanz oder Rechnerkapazitäten machen.

Bleibt die Frage nach der Abwärtskompatibilität zu klären: Beim Bearbeiten einer Session, die mit einer der Vorgängerversionen erstellt wurde,  berechnet Pro Tools 10 sowohl bereits existierende als auch neue Fades ebenso in Echtzeit. Die alten Fades im bereits existierenden Fade-File-Ordner ignoriert die Software dabei einfach. Weitere nennenswerte neue Funktionen, die das Editing betreffen, sind beispielsweise Overlapping Crossfade-View, der die Wellenform-Überlappungen von Clips visualisiert oder die Implementierung einer 24 Stunden-Timeline, die vor allem beim Arbeiten mit mehreren Akten (Reels) im Filmtonbereich hilfreich sein kann. Außerdem wurde die Integration von O-Ton-/Field-Recorder-Aufnahmen verbessert, zum Beispiel durch die Möglichkeit, Pro Tools auch außerhalb der Clip-Liste nach Audio-Files suchen zu lassen. Auch für Misch-Belange hat Pro Tools 10 einige interessante, wenngleich kleinere, neue Funktionen zu bieten, die alle in gewisser Weise helfen, den Überblick zu behalten und zu verbessern. Zum Beispiel können Tracks nun anhand ihrer Ein- und Ausgänge, ihrer Hardware-Inserts oder Send-Zuweisung ausgewählt oder angezeigt werden, was bisher nicht so einfach möglich war. Auf Wunsch blendet Pro Tools sogar alle anderen Tracks aus. In der Praxis erweist sich dies vor allem bei sehr großen Projekten mit vielen Spuren und verschiedenen Ein- und Ausgängen oder komplexen Bus-Strukturen als sehr hilfreiche und vor allem schnelle Möglichkeit, den Überblick zu bewahren oder wiederherzustellen. Dem Überblick dienlich sind auch die drei neuen Anzeigen, die sich zu den Buttons und Anzeigen im oberen Bereich des Edit-Fensters gesellt haben. Die ersten beiden fungieren als eine Art Solo- und Mute-Master und lassen den Anwender sozusagen schon von weitem erkennen, ob sich einer der Tracks im Solo-Modus befindet beziehungsweise ob Tracks stumm geschaltet wurden. So spart man sich unter Umständen lästiges Scrollen und Suchen, denn praktischerweise kann der Solo-Status durch Klick auf die Anzeige gelöscht werden. Beim Mute-Master ist dies auf Grund der Automatisierbarkeit der Mute-Funktion verständlicherweise nicht möglich. Die dritte neue Anzeige findet sich unterhalb der Smart-Tool-Buttons und visualisiert den Status der altbekannten Automation follows Edit-Funktion. Ist diese aktiv, (Indikator leuchtet blau) wirken sich Edits auch auf die Automationsdaten aus, diese werden also beispielsweise beim Verschieben eines Clips entsprechend mit verschoben (sie „folgen“). Bisher war diese Funktion nur im Optionen-Menü zu erreichen, was auf Grund ihres häufigen Gebrauchs eher umständlich war, nun glücklicherweise jedoch zu Gunsten besserer Bedienbarkeit nach vorne geholt wurde. Außerordentlich hilfreiche neue Kleinigkeiten finden sich auch rund um die AudioSuite-Plug-ins. Bislang gestaltete sich der Umgang damit häufig eher umständlich, was zum Beispiel daran lag, dass nicht nur der Effekt selbst, sondern auch jegliche Edits und Fades destruktiv in den Clip gerendert wurden und somit nicht mehr zu bearbeiten waren. Erfreulicherweise wurden nun gleich mehrere Stolpersteine dieser Art aus dem Weg geräumt, was den Workflow wiederum deutlich verbessert: So lassen sich zum Einen endlich mehrere AudioSuite-Fenster gleichzeitig öffnen. Eine scheinbare Nebensächlichkeit, die jedoch sehr sinnvoll ist, vor allem dann, wenn mehrere destruktive Effekt-Berechnungen nacheinander und immer wieder angewendet werden, wie bestimmte Filter oder Rauschminderungsprozesse. Die entsprechenden Plug-in-Dialoge müssen nun nicht immer wieder neu aufgerufen werden, sondern können einfach nebeneinander platziert werden. So geht das Rendern von Clips noch effizienter von der Hand.

Zum Anderen ist es jetzt ebenso möglich, beim Rendern von AudioSuite-Effekten so genannte Handles einzubeziehen, also Teile des Clips außerhalb des ausgewählten Bereichs. Dies hat den Vorteil, dass die Clips auch nach dem Rendern noch in ihrer Länge getrimmt werden können, was ohne Handles unmöglich wäre. Die Länge dieser Handles kann dabei vom Benutzer selbst bestimmt und sogar auf das gesamte File ausgedehnt werden. Ähnliches gilt auch für Fades, die bei Effekt-Berechnungen ebenfalls nicht mehr zwangsweise gerendert, sondern auch beibehalten werden können, was das Editing nochmals flexibler und einfacher gestaltet. Nicht zuletzt geht Pro Tools auch mit Meta-Daten, zum Beispiel von O-Tonaufnahmen, wesentlich sensibler um, denn auch diese können beim Rendern unter bestimmten Bedingungen erhalten bleiben. Voraussetzung ist, dass der jeweils über das AudioSuite-Menü eingestellte File- und Render-Modus das Bewahren von Clips und Metadaten sowie die Berücksichtigung von Handles unterstützt, was nicht in jedem Modus der Fall ist. Eine hübsche Dreingabe ist übrigens der Reverse-Button, den die Entwickler den Hall- und Delay-AudioSuite-Effekten spendiert haben. Er ermöglicht es auf einfachste Weise, nämlich mit einem einzigen Klick, Rückwärts-Hall- oder Delay-Effekte zu kreieren. Sehr schön. Workflow und Performance durch effizientere Funktionalität zu verbessern, ist trotz vieler wirklich nützlicher neuer Features in Pro Tools 10 nur die eine Seite der Medaille. Das wissen auch die Pro Tools-Entwickler, weshalb sie sich gemäß ihrer Optimierungs-Agenda auch der anderen Seite, nämlich dem Performance-Gewinn durch optimale Nutzung der Speichermedien gewidmet haben. Herausgekommen ist dabei eine komplett überarbeitete, neue Disk Engine. In der Vergangenheit zeigte sich die Pro Tools-Disk Engine selbst bei einem sehr leistungsfähigen Rechner häufig als Nadelöhr, wenn es darum ging, viele hundert Fade-Files und Audio-Schnipsel zusammen zu suchen und auszulesen. Die neue Disk Engine verspricht eine allgemein höhere Leistungsfähigkeit, bietet dem Anwender hingegen auch deutlich weniger Optionen zur Konfiguration der Festplattenperformance. So sind Variablen wie die DAE-Playback Buffer-Size oder die Cache-Size aus dem Playback Engine-Dialog verschwunden. Dafür ist ein Gigabyte des RAMs fest für das Streamen von Audio-Files reserviert. Beim Start der Wiedergabe sind die Files folglich bereits im Cache, das System kann also theoretisch wesentlich schneller reagieren. In der Praxis zeigt sich die Arbeit mit Pro Tools 10 tatsächlich deutlich performanter, schneller und leistungsfähiger, selbst mit sehr komplexen Projekten, vielen Plug-ins, Automationsdaten und Editierungen – und das wohl bemerkt, auf demselben PC-System, auf dem kurz zuvor noch Pro Tools 9 agierte. Dieser deutliche Leistungsschub dürfte übrigens nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den zahlreichen, ebenso Performance-orientierten Software-Funktionen, wie den Echtzeit-Fades, stehen. Welches tatsächliche Potenzial der neuen Disk Engine innewohnt, wird einmal mehr im Verbund mit dem Complete Production Toolkit beziehungsweise im HD-Betrieb deutlich: Dort steht eine zusätzliche Funktion bereit, die dem Anwender volle Kontrolle darüber gibt, wie viel RAM Pro Tools für das Cachen der Audio-Files belegen soll. Das RAM-Cachen allein ist dabei schon eine bemerkenswerte Funktion. Dass die Cache-Größe jedoch bis weit über das eigentlich adressierbare Maximum einer 32-Bit-Anwendung, nämlich vier Gigabyte, hinaus gesetzt werden kann, lässt uns regelrecht Bauklötze staunen.

Durch den erweiterten 64 Bit-Adressplatz, der diese RAM-Adressierung ermöglicht, ist die Grenze des für Audio-Streaming verwendbaren Arbeitsspeichers quasi nach oben offen, je nach dem über wie viel RAM das jeweilige System verfügt. Lediglich drei (Mac) beziehungsweise vier Gigaybte (Windows) bleiben als quasi Headroom für das Betriebssystem reserviert und werden von der Gesamtgröße des verfügbaren Arbeitsspeichers subtrahiert. Ganz gleich ob es um Songwriting am Laptop oder um eine aufwändige Kinomischung geht: Mit diesen Eigenschaften gerät der Anwender  bei der Arbeit mit Pro Tools 10 in einen regelrechten Geschwindigkeitsrausch. So geht Ressourcenverwaltung heute. Wir sind begeistert. Die Disk Engine wurde übrigens auch in Form zweier neuer Anzeigen in der System-Auslastungsanzeige (System Usage) aufgenommen. Datenträgercache und Timeline-im-Cache visualisieren jeweils, wie viel Prozent des Datenträgercaches insgesamt genutzt werden beziehungsweise wie viel Prozent der verwendeten Audio-Files aktuell im RAM gecacht sind. Angesichts der hier vorgestellten, zum Teil recht tiefgreifenden Veränderungen stellt sich zu Recht erneut die Frage nach der Abwärtskompatibilität. Bis dato glänzte Pro Tools mit einer einzigartig flexiblen Kompatibilität verschiedener Versionen und Systeme. So konnten sogar Sessions zwischen LE-/M-Powered und HD-Systemen problemlos und ohne Weiteres ausgetauscht werden. Pro Tools 10 stellt diesbezüglich jedoch eine weitere, deutliche Zäsur dar, denn es verwendet konsequenterweise ein neues Session-File Format, mit der Endung .ptx (vormals .ptf), welches sich mit den Vorgängerversionen nicht mehr ohne Weiteres öffnen lässt. Abhilfe schafft hierbei jedoch glücklicherweise der altbewährte Save Session Copy As-Befehl, mit dessen Hilfe das Projekt-File ins Format früherer Versionen konvertiert werden kann. Dies bedeutet allerdings, dass viele der neuen Features quasi rückgängig gemacht werden müssen respektive nicht verfügbar sind. 32-Bit-Files werden folglich konvertiert, ebenso alle Files in ein einheitliches, im Session Setup eingestelltes Audio-Format umgewandelt, sofern unterschiedliche Formate verwendet wurden. Fades werden gerendert und RF64-Files mit einer Dateigröße über vier Gigabyte werden komplett außen vor gelassen. Wirklich schade ist, dass die Clip Gain-Einstellungen manuell in die Files gerendert oder, falls die Funktion verfügbar ist, in Automationsdaten umgewandelt werden müssen, um sie beizubehalten, anderenfalls werden sie beim Transfer ignoriert. In diesem Falle wäre es praktikabler gewesen, wenn Pro Tools diese Vorgänge auf Wunsch automatisch beim Konvertieren der Session vornehmen würde. Die Formate AAF und OMF wurden dagegen um viele der neuen Features erweitert und machen diese damit erfreulicherweise auch für den plattformübergreifenden Projekt-Austausch verfügbar. Multichannel-Files und -Tracks, sowie Clip Gain, Echtzeit-Fades, gerenderte Audio-Effekte und Lautstärke-Automation können nun im- oder exportiert werden und erleichtern somit beispielsweise das Zusammenspiel von Bildschnitt und Tonpostproduktion. Nützlich für den Projekt-Austausch ist nicht zuletzt auch die neue Option Export Selected Tracks As Session, die sich ebenfalls im Save Session Copy As-Dialog findet. Sie bildet sozusagen das Pendant zur Import Session-Data-Option und gestattet es, ausgewählte Tracks als Session zu exportieren. Die neue Session enthält folglich nur die Audio-Daten, die auch wirklich benötigt werden, was wiederum nicht nur das Datenaufkommen verringert, sondern auch die Übersichtlichkeit erhöht. Last but not least wurde mit Pro Tools 10 die Integration der hauseigenen Hardware-Controller weiter vorangetrieben. So wurde beinahe jede DAW-Funktion ins EUCON-Protokoll implementiert, also auch für die Controller der Artist-Serie verfügbar gemacht. Außerdem kann die D-Command nun im Multi-Modus und Satellite Link mit maximal zwölf statt fünf Systemen betrieben werden. Darüber hinaus können Mischungen direkt nach dem Bounce zum Internet-Portal SoundCloud hoch geladen werden. Damit nicht genug, ist es auch möglich, direkt aus Pro Tools heraus den Avid-Marketplace zu betreten und nach Herzenslust auf Plug-in Shopping-Tour zu gehen.

Ready for 64 Bit: Das neue Plug-in-Format AAX

Pro Tools 10 wird die einzige Version bleiben, die sowohl RTAS und TDM als auch das neue AAX-Format unterstützt. AAX wird dabei künftig das einzige Plug-in-Format in Pro Tools  darstellen. Wie seine Vorgänger unterstützt es Echtzeit-Processing und Offline-Rendering via AudioSuite. Das Wichtigste jedoch sind die zahlreichen Vorteile, die sich durch die Konzeption des neuen Formats sowohl für Anwender als auch für Drittanbieter von Plug-ins ergeben. Zum Einen wird der Aufwand, ein natives Plug-in auch als DSP-Version bereit zu stellen, für die Hersteller künftig deutlich geringer, da nur noch ein Plug-in-Format existiert. Denn der Grund für die höheren Preise der TDM-Plug-ins besteht schlicht und einfach im hohen Aufwand bei der Portierung von RTAS (von 32 Bit Float zu 48 Fixed, siehe auch die Plug-in-Reportagen in den Heften 10 und 11/2011). Es ist also durchaus denkbar, dass zukünftige DSP-Plug-in-Versionen deutlich günstiger zu haben sind. Anwender können sich auch über eine optimierte Benutzeroberfläche (GUI) freuen, die es zum Beispiel ermöglicht, dass Plug-ins in Zukunft vollständig auf Controller-Oberflächen dargestellt werden können. Der größte Vorteil des neuen AAX-Formats ist jedoch das Entfallen der DSP-Exklusivität von Plug-ins. Das bedeutet, sie werden gleichzeitig als DSP- und als native Version verfügbar sein. Der Session-Austausch zwischen verschiedenen Systemen wird dadurch erleichtert, da beim Fehlen einer DSP-Karte automatisch die native Variante geladen wird, sofern das Plug-in installiert wurde. Somit können künftig also auch Besitzer eines nativen Pro Tools-Systems jedes Plug-in erwerben, auch solche, die bislang nur als TDM-Version verfügbar waren.

Zuwachs in der Plug-in-Familie: Channel Strip, ModDelay III und Down Mixer

Passend zum neuen Plug-in-Format liefert Pro Tools 10 drei neue AAX-Plug-ins mit. Allen gemeinsam ist eine überarbeitete grafische Benutzeroberfläche, die mit dunklen Farben optisch recht edel wirkt. Im Folgenden wollen wir Ihnen die drei Neulinge kurz vorstellen.

Channel Strip

Der Channel Strip feiert in Pro Tools 10 Premiere und vereint erstmalig die Standardwerkzeuge eines klassischen Mischpult-Kanals in einem einzigen Plug-in: Filter, Equalizer und Dynamik-Sektion. Die Effektreihenfolge kann dabei sogar variiert werden. Jede Sektion kann außerdem separat hinzu- oder abgeschaltet werden. Die Dynamik-Sektion besteht aus Expander und Gate sowie Kompressor und Limiter plus einem recht umfangreichen Side-Chain-Abschnitt, der sowohl intern mit Filter als auch extern via Key getriggert werden kann. Zu den Standardbedienelementen wie Attack und Release gesellt sich ein zusätzlicher Depth-Regler, der die Dynamik-Reduktion unabhängig vom eingestellten Threshold auf einen bestimmten Wert begrenzt, was noch präziseres Komprimieren ermöglicht. Ein praktisches Übersichtsfenster zeigt alle Dynamik-Einstellungen in Dezimalform auf einen Blick. Das Input-Meter visualisiert auf Wunsch auch die Pegelreduktion. Der Equalizer bietet vier vollparametrische Bänder, die im gesamten Frequenzspektrum eingesetzt werden können, wobei HF- und LF-Band jeweils zwischen Bell und Shelf umschaltbar sind. Dazu gesellen sich zwei separat zuschaltbare Passfilter. Mittels so genannter Listen-Funktion können die einzelnen Bänder invertiert werden, was bedeutet, dass nur die Einstellung des jeweiligen Bandes hörbar ist. Eine tolle Funktion, die präzises Frequenz-Tuning noch leichter macht. Das Justieren von Equalizer und Filter geht insgesamt erfreulich flexibel von der Hand, wahlweise via Potis oder grafisch über das Display, sogar das Mausrad ist als präzises Einstellwerkzeug mit von der Partie. Klanglich ist der Channel Strip eins der besten Avid-Plug-ins, die wir je gehört haben. Kein Wunder, stand doch der Kanalzug der preisgekrönten Euphonix System 5-Konsole klanglich Pate. Besonders der EQ begeistert mit seinen kraftvollen Eingriffen, die dabei jedoch stets so musikalisch klingen, dass es eine Freude ist. Die alten Digirack-Pendants wirken dagegen blass, beim alten Equalizer fallen im direkten Vergleich unschöne Verfärbungen und Phasenverschiebungen auf. Der Channel Strip-Kompressor klingt insgesamt ähnlich wie der des SSL-Channelstrips von Waves und wirkt etwas filigraner als der C1. Insgesamt bekommen Pro Tools-Anwender also künftig ein Plug-in an die Hand, dass nicht nur äußerst flexibel einsetzbar ist, sondern dass auch hervorragend klingt.

ModDelay III

Das ModDelay III ist, wie die römischen Ziffern andeuten, die dritte Neuauflage des Digidesign-Modulationsdelays. Die wesentlichste Neuerung: Die Delay-Zeiten von einer Millisekunde bis fünf Sekunden sind nun in einem einzigen Plug-in verfügbar. Die Vorgängerversion war umständlich in mehrere separate Plug-ins aufgesplittet, die jeweils nur einen bestimmten Delay-Zeitbereich (Short, Medium, Long) abdeckten. Das neue ModDelay lässt sich leichter bedienen und wartet zudem mit einem etwas feineren Klang auf, entspricht ansonsten jedoch weitestgehend seinem Vorgänger. Allerdings sind nicht nur Delays und Echos möglich, sondern auch interessante Flanger- oder Kammfilter-Effekte. Nach wie vor stehen maximal zwei Delay-Stufen zur Verfügung, die auf Wunsch auch auf das in der Timeline eingestellte Tempo synchronisiert werden können.


Down Mixer

Der Down Mixer ist ebenso wie der Channel Strip eine Neuentwicklung. Mit seiner Hilfe ist es möglich, Surroundmischungen bis 7.1 als Stereo-Versionen umzuwandeln. Dazu wird das Plug-in einfach als Insert in den betreffenden Track geladen. Über Fader kann der Pegel der einzelnen Original-Kanäle präzise justiert werden, um zum Beispiel das Verhältnis von Surround- und Frontkanälen in der finalen Stereo-Version zu bestimmen. Selbstverständlich ist es auch möglich, Kanäle stumm oder solo zu schalten oder ihre Phase zu drehen. Ohne das Complete Production Toolkit bietet der Down Mixer lediglich eine Stereo-to-Mono-Variante, aber auch diese ist sehr hilfreich, um zum Beispiel stereophone Aufnahmen als summierte Mono-Ereignisse wiederzugeben, die zum Beispiel in komplexen Mischungen häufig leichter zu platzieren sind.

Fazit

Eines ist klar: Die Avid-Entwickler haben ihre Optimierungs-Agenda erfolgreich abgearbeitet.  Besonders im Bereich Editing wartet Pro Tools 10 mit enormen Verbesserungen auf, die das Audio-Alltagsgeschäft künftig in vielerlei Hinsicht leichter von der Hand gehen lässt. Das Update lohnt nicht zuletzt deshalb vor allem für professionelle Sounddesigner, Editoren oder Filmtonschaffende.  Kritiker mögen zwar einwenden, dass viele der neuen Funktionen ohnehin zur Kategorie „längst fällig“ gehören, die Anwendern anderer DAWs, vor allem aus dem Hause Steinberg, nur ein müdes Lächeln und die Aussage „hatten wir schon immer“ entlocken. Weniger kritisch betrachtet zeigt sich mit Pro Tools 10 jedoch nicht nur, dass die Wünsche der Anwender sehr wohl ernst genommen werden. Das AAX Plug-in-Format, Clip Gain, Echtzeit-Fades und nicht zuletzt die beeindruckend überarbeitete Disk Engine sind der beste Beweis dafür. Überdies setzt Avid mit wohl durchdachtem Konzept auch auf Zukunftstechnologien wie 64 Bit. Die Wunschliste der Anwender dürfte jedenfalls jetzt deutlich kleiner geworden sein.

Erschienen in Ausgabe 04/2012

Preisklasse: Oberklasse
Preis: 677 €
Bewertung: sehr gut – überragend
Preis/Leistung: sehr gut