Des Königs neue Kleider

Gleich zwei gold-schwarze Oktavas als Hauptfiguren im tonmeisterlichen Aufnahme-Schach? Aber nein. Trotz gleicher Abstammung bewerben sich hier zwei verschiedene Mikrofone im gleichen Gewand um die Königswürde.

Von Harald Wittig

Die aus dem russischen Tula stammenden Oktava-Mikrofone genießen ausgerechnet beim früheren Klassenfeind, in den USA nämlich, einen gewissen Kultstatus, denn dort ist bei einigen Toningenieuren der spezielle Oktava-Sound richtig angesagt. Dieser Klang, der sich durch Direktheit, Durchsetzungsfähigkeit und Kernigkeit mit einem gewissen Hang zum Bissigen auszeichnet, macht die eigenwilligen Russen zum Geheimtipp für Live-Anwendungen und kann im Studio-Einsatz gerade matt und farblos klingenden Instrumenten zu mehr Glanz und Brillanz verhelfen. Bei erstklassigem Instrumentarium und Aufnahme-Equipment kann sich dieser Oktava-Vorteil allerdings auch ganz schnell ins Gegenteil verkehren: Da kann ein weich intonierter Flügel schon mal unangenehm gläsern klingen, der Ton von Holzbläsern sich verengen und bei Stimmen treten die Zischlaute allzu deutlich in den Vordergrund des Klanggeschehens, dass es auch ein De-Esser kaum noch richten kann. Zumindest war das eines der Ergebnisse unseres Testes des Kleinmembran-Mikrofons Oktava MK-012-01 in Ausgabe 5/2006.
Verantwortlich für den Klang eines Mikrofons ist die optimale Fertigung im Detail, angefangen beim Aufbau der Kapsel bis hin zum Speiseteil, das bestenfalls auf die Mikrofonkapsel abgestimmt oder sogar maßgeschneidert sein sollte. Hier setzt der gebürtige Ungar Attila Czirják an, der sich im Rahmen seines kleinen Ein-Mann-Betriebs United Minorities auf das Tunen von Mikrofonen spezialisiert hat. Das bedeutet: Der Tüftler aus Freiburg im Breisgau behält grundsätzlich nur die Membran und den Gehäusekörper eines Serien-Mikrofons bei und versieht es mit einer komplett neu konstruierten Elektronik, so dass am Ende ein klanglich neues Mikrofon im altbekannten Gewand entstanden ist. So verblüffte das getunte Studio Projects B 1 in unserem großen Vergleichstest Großmembran-Kondensator-Mikrofone in Ausgabe 11/2006 neben einem vorbildlichen Rauschverhalten durch seine weitgehende Neutralität gepaart mit einem sehr guten Auflösungsvermögen. Gerade mit dem bereits in dritter Generation vorliegenden Studio Projects/United Minorities B 1 bewies Czriják seine Kompetenz als Klang-Designer. Das gelang ihm auch mit der ersten Version des Oktava MK-102 (siehe Test in Ausgabe 12/2006): Das getunte MK-102 klang ganz und gar nicht Oktava-mäßig, sondern ausgesprochen voll und warm und war in der Redaktion ein gerne gehörter Partner für die Aufnahme von akustischen Steel-String-Gitarren.

Professional audio Magazin hat jetzt exklusiv das allerneuste Werk aus der badisch-ungarischen Werkstatt erhalten: Einmal mehr dient ein Oktava MK-102 als Vorlage, doch diesmal beschränkte sich Czriják nicht darauf, dem russische Mikrofon eine neue Stimme zu verleihen. Das neu designte MK-102 bietet jetzt, so verspricht es das Datenblatt, zwei unterschiedliche Sounds: Einen eher neutralen Klang mit hoher Auflösung, womit sich das Mikrofon für das naturnahe Abbilden des Primärtones von Instrumenten und Stimmen empfehle und einen zweiten, der den typischen Oktava-Klang biete. Somit erhalte der Käufer für den mit 800 Euro zugegebenermaßen nicht eben niedrigen Anschaffungspreis ein vielseitiges Profi-Mikrofon, das bei unter-schiedlichen Anwendungen eine gute Figur machen soll. Weiter versichert Czirjáki, dass er höchst selbst die Original-Oktavas sorgfältig ausgewählt habe und nur die besten Stücke für seine aufwändigen Überarbeitungen beziehungsweise Neukonstruktionen verwende. Für den Test erhielten wir auch gleich zwei Mikrofone aus Freiburg: Neben dem getunten MK-102 traf auch ein Original-Oktava ein – ideale Vorraussetzungen für einen eingehenden A-B-Vergleich.

Die beiden Testmikrofone sehen aus wie Kleinmembran-Mikrofone und betreiben damit gekonnt Mimikri: Mit einem Membrandurch-messer von immerhin 20 Millimetern – das ist der doppelte Wert den üblicherweise eine Stäbchen-Membran aufweist – erreicht das MK-102 fast die Ausmaße der gängigen 1-Zoll-Membran bei den Großkopferten. Daher han-delt es sich um Großmembran-Kondensator-Mikrofone mit Kugel-Charakteristik. Wer sich hier vom Kleinwuchs täuschen lässt und sich über ein zu träges Impulsverhalten seines neu erworbenen Mikrofons beschwert, würde beiden MK-102 unrecht tun, denn soviel Membran-Masse will schließlich auch bewegt werden.
Beide Mikrofone werden in einer soliden Holzschatulle mit etwas hakeligem Verschluss geliefert, in dem jeweils voneinander getrennt Kapsel, Speiseteil/Verstärkereinheit, das einschraubbare Dämpfungszwischenglied und die serienmäßige Mikrofon-Klammer in Schaumstoff gebettet verwahrt sind. Allerdings rät Attila Cziriják dringend davon ab, seine neu gestalteten Kapseln mit bereits vorhandenen und nach wie vor anschraubbaren – insoweit sind Oktava-Mikrofone grundsätzlich modular aufgebaut – Speiseteilen zu kombinieren: Da Kapsel und Verstärkereinheit sorgfältig aufeinander abgestimmt seien und sich in jedem Holzetui demnach maßgeschneiderte Einzelkomponenten befinden, führe ein unbesorgte Kombination von scheinbar kompatiblen Kapseln oder Speiseteilen zu einer deutlichen Verschlechterung der Leistung hinsichtlich Rauschverhalten und Linearität.
Dass auch das getunte MK-102 mit dem Okta-va-typischen Dämpfungsglied geliefert wird, überrascht ein wenig, denn dieses Mikrofon hat eine ins Speiseteil eingebaute Pegeldämpfung. Diese lässt sich über einen versenkten Schalter, der nur mit einem Werkzeug möglichst vorsichtig zu verstellen ist, aktivieren und bewirkt eine Pegeldämpfung von 10 dB. Freilich schadet es nichts, dass auch das originale Dämpfungsglied im Lieferumfang enthalten ist: Schließlich kann es Live und im Studio schon mal hochpegelig-laut vor der Mikrofon-Kapsel zugehen. Über dem Pad-Schalter ist noch ein zweites, unscheinbares Schalterchen angebracht, das aber ganz maßgeblich zum Klang des Mikrofons beiträgt: Zur Kapsel hin geschoben, bewirke dieser als „Voiceing-Schalter“ bezeichnete Schaltwinzling eine Höhenanhebung, wodurch der Klang des Mikrofons insgesamt präsenter, also eher Ok-tava-like werde.
Schließlich liefert Czirják „sein“ MK-102 mit einer Spinne aus massivem Metall einschließ-lich Stativ-Gewindeadapter aus: Diese Spinne ist von guter Qualität und beweist sich im Test als wirksamer Schockabsorber, der Vibrationen gekonnt abfedert. Mithin eine wirklich erfreuli-che und praxisgerechte Alternative zu der zwar in der Handhabung guten, jedoch schlichten Einfach-Klammer, die dem Original beiliegt.

Der Frequenzgang des originalen MK-102 weist eine stetige Anhebung ab den oberen Mitten ab etwa zwei Kilohertz auf. Insgesamt ist der Anstieg gleichmäßig und lässt den oktava-typischen präsenten Klang erwarten, während die eigentliche Anhebung der Höhen zwischen sieben und zehn Kilohertz ganz typisch für ein Großmembran-Mikrofon ist. Das getunte MK-102 darf sich dagegen mit einem erfreulich geradlinigen Frequenzgang schmücken, einzelne erkennbare Welligkeiten können getrost vernachlässigt werden. Bei aktiviertem Voceing-Schalter ermittelt das Messlabor eine dem Original sehr ähnliche Pegelanhebung ab zwei Kilohertz auf. Ob damit auch der Klang dem des Vorbilds entspricht, zeigt allerdings erst der nachfolgende Praxistest.

Grau ist alle Theorie und auch Messergebnisse sind nur ein kleiner Teil der Klangwahrheit, deswegen haben wir, wie es bei Professional audio Magazin zum guten Ton gehört, mehrere Takes mit beiden Mikrofonen unter Sonar 6 aufgenommen. Für diese Vergleichsaufnah-men ist ein Tester und Instrumentalist gut beraten, auf sein bewährtes Instrumentarium, das er durch jahrelangen Gebrauch in und aus-wendig kennt, zu vertrauen. Daher kommen für diesen Test drei akustische Gitarren zum Einsatz: Eine klassische Sanchis Carpio 1 AF Flamenco-Gitarre, eine Lakewood D-8 Steel-string und eine Launhardt FS-3 Archtop. Das Aufnahme-Equipment bleibt mit den beiden Mikrofonen und der bewährten Kombination Lake People Mic-Amp F355 und Lynx Aurora 8 puristisch und überschaubar.
Beim Abhören der Takes sind wir zunächst positiv vom Klang des Original-Oktavas überrauscht. Das Mikrofon klingt zwar kernig, aber keinesfalls unangenehm bissig. Zumindest mit der Flamenco-Gitarre geht es eine gute Partnerschaft ein: Bei durchweg guter Auflösung, die sowohl spieltechnische Feinheiten als auch ungewollte Nebengeräusche wie beispielsweise das Fingernagelklicken beim Abdämpfen der Sai-ten sachlich wiedergibt, zeigt sich das originale MK-102 auch impulsfest bei harten, perkussiven Rasguedos und Picados. Bei den beiden Stahlsaiten-Gitarren, die von Natur aus mehr Obertöne produzieren, ist der Klang e-benfalls nicht überpräsent, wenngleich die mit Plektrum gespielte vollmassive Archtop eine Spur zu hart und von der Klangcharakteristik etwas in Richtung laminierte Hölzer tendiert. Hier bewahrheitet sich demnach durchaus das Messergebnis.

Das getunte MK-102 klingt in linearer Einstellung runder und voller als das Original, ist dabei aber nicht ganz so auf Wärme getrimmt wie die Erstauflage. Das ist kein Nachteil, denn dieser eher unauffällige, neutrale Klang ist nah am Primärton und freut den Klangpuristen. Die ohrenfällige Rauscharmut des Mikrofons kann absolut gefallen, zumal hier das gegenüber dem Original noch bessere Auflösungsvermögen voll zur Geltung kommt. Schließlich arbeitet der Pad-Schalter tatsächlich wie von Czirják versprochen ohne Knacksen beim Einschalten. Allerdings wird dieser Schalter kaum im Betrieb betätigt werden, denn dafür ist er zu umständlich zu verstellen.
Der Voiceing-Schalter zeigt Wirkung, die aber nicht allzu plakativ ausfällt: Die hörbare, aber insgesamt dezente Anhebung der Höhen, sorgt für einen geringfügig direkteren, etwas brillanteren Ton, der sich sehr gut beispielsweise für Gitarren in tiefen Open Tunings (Offene Cis- oder C-Stimmung) oder auch tiefe, etwas breiige Stimmen. Das Mikrofon klingt dabei nie unangenehm, es sorgt lediglich für mehr Kontur bei o-bertonärmeren Signalen. Insoweit lässt sich damit auch eine Gitarre mit nicht mehr taufrischen Saiten aufwerten oder der Saxo-phonist muss nicht notwendig zu einem um eine halbe Stufe härteren Blatt greifen. Wegen dieser eher subtilen Färbungen, verengt sich der Klang der Instrumente nicht hinauf zu den Höhen wie es leider oft bei weniger guten Mik-rofonen der Fall ist. Im direkten Vergleich mit dem originalen MK-102 klingt das Getunte weniger kernig, besitzt also weniger Eigenklang. Wer den echten Oktava-Sound will, greife zum Original – allerdings sollte es ein MK-102 auf dem Fertigungsniveau des Testmikrofon sein.

Fazit

Beide Mikrofone können klanglich überzeugen. Das originale Oktava MK-102 bietet den Oktava-Sound, der mit seiner gewissen Kernigkeit zwar eigen, aber keineswegs unangenehm ist. Dieses Mikrofon ist auf hohem Niveau gefertigt, entsprechend gut spielt es auf, so dass der Ruf, den die Oktavas bei eingeschworenen Fans genießen, hier nachvollziehbar ist. Das getunte MK-102 übertrifft das Original in punkto Rauschverhalten und mit seinem tendenziell neutralen und volleren Grundklang, der in erster Linie die Puristen anspricht, die auf der Suche nach einem Universal-Mikrofon sind. Da die deutsch-ungarische Oktava-Variante zu-dem noch einen zweiten Klang bietet, eignet es sich auch für besondere Fälle wo Stimmen und Instrumente einen Hauch mehr Kantenschärfe und Kontur vertragen können. Unterm Strich sind beide Mikrofone ein Antesten wert, das von Attila Czirják getunte MK-102 ist gleichwohl das klanglich Vielseitigere und damit der bessere Kauf.

Erschienen in Ausgabe 04/2007

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 800 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut