Hauptdarsteller

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Der aktuelle Neuzugang im Neumann-Katalog heißt TLM 107 und hat jede Menge Potenzial, die Besetzungslisten im Studio als Hauptdarsteller anzuführen.

Von Harald Wittig

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass der Name eines Herstellers im allgemeinen Sprachgebrauch Quasi-Synonym für eine Produkt-/Gerätegattung ist. Der Name Neumann ist auch bei Menschen, die an Aufnahmetechnik ein allenfalls oberflächliches Interesse haben, gleichbedeutend mit hochwertigen Mikrofonen. Die weltberühmte Neumann-Raute kenne Millionen Menschen, denn irgendwann hat der moderne Mensch mit Zugang zu den Massenmedien sicherlich wenigstens einige Male einen Sprecher, Sänger, Musiker oder ein Ensemble vor einem Neumann-Mikrofon gesehen. Das Ansehen des Herstellers, dessen Gründung durch Georg Neumann und Erich Rickmann vor über 80 Jahren im Jahr 1928 erfolgte und der heute als Georg Neumann GmbH zur Sennheiser Electronic GmbH & Co KG gehört, ist ungebrochen sehr hoch. Die Klassiker aus den 1950er- und 1960er-Jahren, welche Tontechnik-Geschichte geschrieben haben, sind nach wie vor und nicht nur bei Sammlern gesucht. So ist eine quicklebendige Lebende wie das U 87 in den Klanglaboren der Welt erste Wahl der Tonschaffenden für eine Vielzahl von Anwendungen.
Ein echtes Neumann sein Eigen zu nennen und damit zu arbeiten – davon träumen viele Recording-Einsteiger, engagierte Amateure und angehende Profis gleichermaßen. Auf ewig unerfüllt muss dieser Traum schon seit einigen Jahren nicht mehr bleiben, hat der Traditionshersteller doch mit den Modellen TLM 103 von 1997 und TLM 102 – um nur zwei zu nennen – auch kostengünstige Mikrofone im Angebot. Auch das neueste Modell im Katalog und unser heutiger Testkandidat, das TLM 107 gehört zu den kostengünstigen Neumann-Mikrofonen: Es schlägt mit rund 1.400 Euro zu Buche, was selbstverständlich nicht billig ist, aber für ein Mikrofon „Made in Germany„, auf dem zudem das berühmte Logo prangt, als relativ günstig ansehbar ist. Dass das neue Neuman auch sonst in mehrfacher Hinsicht einiges zu bieten hat, sei schon jetzt verraten. Dann wollen wir uns den Schallwandler sogleich näher ansehen.

Das TLM 107 ist ein Kondensatormikrofon mit umschaltbarer Richtcharakteristik in Großmembran-Bauweise. Die akustische Arbeitsweise ist die eines Druckgradientenempfängers, das Herzstück des Mikrofons ist eine neu entwickelte Doppelmembran-Kapsel. Diese unterscheidet sich rein äußerlich von den traditionellen Neumann-Kapseln, dass sie nicht mitten-, sondern randkontaktiert ist. Das bringt zunächst insoweit Vorteile, als dass das Mikrofon weniger empfindlich auf Staub und Feuchtigkeit reagiert. Das heißt jetzt nicht, dass dieses Neumann nicht ebenso pfleglich zu behandeln wäre wie die weitaus teureren Anverwandten mit den berühmten mittenkontaktierten Kapseln. Eine den Elektretmikrofonen vergleichbare Betriebssicherheit bei sehr ungünstigen klimatischen Verhältnissen wie einer außergewöhnlich hohen Luftfeuchtigkeit bieten solcherart konstruierte Mikrofone trotzdem nicht. Das sollte auch niemand erwarten, zumal es sich bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent kaum im Studio arbeiten ließe.

Weitaus interessanter ist, dass das TLM 107-Kapseldesign an Neumanns Digital-Flaggschiff, dem D-01 orientiert. Ohne jetzt all zu sehr ins Detail zu gehen – immerhin wollen wir und erst Recht nicht die Neumann-Entwickler eine Nachbauanleitung veröffentlichen: Die Bauweise der Kapsel unterscheidet sich grundlegend beispielsweise von der eines U 87 Ai. Der Abstand der beiden Membranen ist geringer, das Luftpolster zwischen den Membranen ist dichter, weswegen die Membranen weniger nachschwingen. Das begünstigt das Impulsverhalten und die Transientenwiedergabe. Außerdem ist die Kapsel vergleichsweise klein für eine Großmembran und nach Auskunft von Neumann eher mit der des U 89 vergleichbar. Auch das kommt dem Impulsverhalten zugute, gleichzeitig verschiebt sich die großmembrantypische Höhenanhebung wegen Druckstaus vor der Membran weiter zu den höheren Frequenzen hin. Daraus resultiert ein bis etwa acht Kilohertz sehr linearer Frequenzgang, die darauf folgende Höhenanhebung bleibt ausweislich des auf Seite 67 abgedruckten Referenz-Frequenzgangs für die Nierencharakteristik sehr moderat.
Es handelt sich bei dem TLM 107 wie gesagt um ein Großmembran-Mikrofon mit umschaltbarer Richtcharakteristik, wobei diese wie gemeinhin üblich auf elektrischem Wege erzeugt wird. Wir haben es also mit zwei Druckgradientenempfängern zu tun, durch Aufschalten unterschiedlich hoher Polarisationsspannungen auf beide Kapseln werden die Richtcharakteristiken erzeugt. Das TLM 107 stellt dem Anwender mit den Standards Kugel, Niere und Acht sowie den Zwischenstufen Breite Niere und Hyperniere gleich fünf verschiedene Richtcharakteristiken zur freien Verfügung, was das Mikrofon schon mal sehr flexibel und vielseitig einsetzbar macht. Beispielsweise eignet sich ist die Breite Niere gut als Stütze bei Orchesteraufnahmen, um etwa die Violinen zu stützen. In diesem Fall hat die Niere oft eine zu hohen Bündelungsgrad, während die Kugel keine ausreichende Kanaltrennung bietet. Ist es hingegen notwendig, dass seitlich einfallender Schall besonders effektiv bedämpft wird – wir denken an Live-Einspielungen im Kleinraumstudio –, empfiehlt sich die Supernieren-Charakteristik. Ist vor allem rückwärtig einfallender Schall unerwünscht, wäre die Niere die beste Wahl.

Neumann hat es geschafft, den fünf Richtcharakteristiken eine überdurchschnittlich hohe Konsistenz zu geben, was Sie an dem Polardiagramm für die Nierencharakteristik, das auf Seite 67 zu sehen ist, erkennen können. Das gilt auch für die Acht, bei der es sich um die anspruchsvollste Richtcharakteristik handelt. Dass die Acht des TLM 107 nicht mit der Perfektion der besten Achten wie einem Sennheiser MKH30 oder der Schoeps-Kapsel MK8 konkurrieren kann und will, sollte dabei jedem klar sein. Im angemessenen Vergleich mit anderen umschaltbaren Großmembran-Mikrofonen macht das TLM 107 und seine Richtcharakteristiken, auf Englisch übrigens „Polar Pattern“ genannt, eine sehr gute Figur.
Die Richtcharakteristik, genauer gesagt die unvermeidbare Frequenzabhängigkeit des Richtdiagramms, prägt die Klangeigenschaften eines Mikrofons (siehe hierzu ausführlich den Beitrag zur Polarflex Technik von Schoeps in Ausgabe 1/2012). Der Eigenklang von Großmembranen ist zu einem Gutteil geprägt von der bauartbedingten, vergleichsweise ausgeprägten Frequenzabhängigkeit ihrer Richtcharakteristiken. Deswegen ist im Falle des TLM 107 auch ein eigener Klang, der nicht notwendig dem der Neumann-Klassiker entsprechen muss, zu erwarten. Es ist übrigens, auch wenn anderenorts das Gegenteil behauptet wird, nicht möglich, diesen speziellen klanglichen Fingerabdruck mittels Equalizer nachzubauen oder zu beeinflussen: Der Klangsteller hat keinen Einfluss auf die Frequenzabhängigkeit des Richtdiagramms beziehungsweise des Bündelungsmaßes, da es sich um ein Phänomen handelt, das im Schallfeld entsteht. Das müssen Sie nicht unbedingt wissen, merken Sie sich einfach dass sich der Eigenklang eines Mikrofons aus mehreren Komponenten zusammensetzt, die der Ingenieur kennt und bei der Konstruktion der Kapsel – und selbstverständlich auch bei der des Verstärkers/Impedanzwandlers – berücksichtigt.

Das TLM 107 ist als modernes Studio-Mikrofon konzipiert und hat laut Aussage des Herstellers klanglich nichts mit Vintage-Mikrofonen, auch nicht den alten Neumännern am Hut. Sein Klang soll also beispielsweise nicht warm und (ver)färbend, sondern nah am Original sein. Vor allem hätten die Entwickler viel Wert auf die natürliche Reproduktion von Sprachlauten gelegt, wobei besonders die kritischen S-Laute besonderes Ohrenmerk verdient hätten. Zur Optimierung des Mikrofons für Gesang und Sprache passt auch der neu gestaltete Einsprechkorb, der nicht nur sehr elegant aussieht, sondern eine geringe Anfälligkeit des Mikrofons für Plosivlaute garantieren soll. Die spezifischen Klangeigenschaften des TLM 107 werden wir wie üblich im Rahmen des finalen Praxistests behandeln.

Das TLM 107 ist seiner vornehmen Herkunft entsprechend hervorragend verarbeitet. Wer es aus seinem Holzetui herausnimmt, weiß sofort, dass er ein hochwertiges Mikrofon in den Händen hält. Das rote Neumann-Logo auf dem mattschwarzen Gehäuse – alternativ ist es auch im Nickel-Finish erhältlich – signalisiert die Einsprechrichtung und die Zugehörigkeit des Mikrofons zu Neumanns „TLM“-Reihe. Die Abkürzung steht für „TrafoLosesMikrofon“ und bedeutet, dass die Symmetrierung des Ausgangssignals „eisenlos“ als rein elektronisch erfolgt. Da Ausgangsübertrager immer ein mehr oder weniger klares klangliches Wörtchen mitreden, verbinden sich mit der TLM-Konstruktion allgemein bestimmte Klangeigenschaften, namentlich eine besonders gute Höhenauflösung und damit ein eher klarer, vielleicht auch schlanker Klang – nun, wir werden selbst hören.

Das Mikrofon bietet eine zweistufige Vordämpfung/Pad von wahlweise -6 oder -12 Dezibel. Mittels Pad lasse sich der mit angegebenen 141 dB SPL hohe Grenzschalldruckpegel, den das TLM 107 ohne Verzerrungen noch verkraften soll, auf maximal 153 dB SPL heraufsetzen. Damit eignet sich das neue Neumann auch für die Mikrofonierung eines brüllend lauten Marshall-Turms oder der Aufnahme der Trompete nah an der Stürze. Dass ein so pegelfestes Mikrofon vor allem auch der enormen Dynamik der menschlichen Stimme gerecht wird, ist sicherlich besonders bemerkenswert. Immerhin ist die Gesangsaufnahme nach wie vor die historisch gewachsene Domäne der Großmembran-Mikrofone. Passgenau hat Neumann sein Neues noch mit einer zweistufigen, praxisgerechten Tiefenabsenkung ausgestattet: Die 40 Hertz-Einstellung dient der Bescheidung von Störschall unterhalb des Grundtonbereichs, ohne das klangrelevante Informationen dabei beschnitten würden. Der tiefste Ton eines Kontrabasses, die leere E-Saite schwingt etwa 41-mal pro Sekunde, liegt also bei 41 Hertz. Die zweite Stellung des Hochpassfilters liegt bei 100 Hertz und ist speziell für Gesang optimiert: Im tiefen 100 Hertz-Keller bewegt sich sowohl der ausgebildete männliche Bariton, als auch ein Death Metal-Shouter wie der frühere Cannibal Corpse-Growler Chris Barnes.
Zu aktivieren sind Pad und Hochpassfilter über den metallenen Navigationsschalter auf der Rückseite des Mikrofons. Die Handhabung des Schalters ist etwas gewöhnungsbedürftig und erinnert uns an den Joystick der digitalen Canon-Spiegelreflexkameras. Sehr ansprechend sind aber die LED-Anzeigen, die über den aktuellen Schaltzustand Auskunft geben. Die LEDs leuchten auf bei anliegender Phantomspannung und bei Betätigung des Navigationsschalters. Sie erlöschen nach 15 Sekunden selbsttätig. Die rückseitige Anordnung von Schalter und Anzeigeelementen gefällt uns sehr gut: So werden Sänger und Instrumentalisten nicht nur nicht irritiert. Die Musiker kommen auch nicht auf die Idee, während der Aufnahme mal eben was zu verstellen und so eine Aufnahme zu verhunzen.

Das TLM 107 ist mit 11 mV/Pa ein eher gering empfindliches, anders ausgedrückt: Ein recht leises Mikrofon. Dafür bleibt die Empfindlichkeit auch bei allen fünf Richtcharakteristiken, übrigens ganz anders als beim berühmten U 87 Ai, gleich. Ein Nachregeln am Preamp fällt somit weg, was dem Arbeitsfluss sehr zugute kommt. Davon abgesehen läuft der Anwender weniger Gefahr, den Impedanzwandler und den Eingang des nachgeschalteten Vorverstärkers zu übersteuern. Der Nachteil der geringen Empfindlichkeit: Das Eigenrauschen des Mikrofons könnte zumindest bei der Aufnahme leiser Instrumente, also Zupfinstrumenten wie Gitarre und Harfe, störend in Erscheinung treten. In der Praxis wird das jedoch eher seltener der Fall sein, denn der Geräuschpegelabstand des TLM 107 ist mit 84 Dezibel sehr gut, lediglich nicht ganz so herausragend wie beispielsweise beim TLM 103, hat aber definitiv Neumannklasse. Da ist schon eher bei der Wahl des Vorverstärkers besonderen Wert auf einen sehr rauscharmen Vertreter der Zunft zu legen. Beispielsweise auf den Lake People Mic-Amp F355, unseren Referenz-Preamp, der selbstverständlich in Kombination mit unserem bewährten Referenz-Wandler Mytek Digital 8X192ADDA für den Praxis-/Aufnahmetest zum Einsatz kommt.

Wir nehmen mit dem Neumann TLM 107 Sprache, Gesang sowie im Overdub-Verfahren ein Gitarren Duo-Stück mit unserer Standard-Studiogitarre, der Ricardo Sanchis Carpio 2F Flamencogitarre auf. Schon ausrichten des Mikrofons gefällt uns ausgezeichnet, was wir über Kopfhörer erfahren, beim Abhören der Aufnahmen strahlt das gesamte Redaktionsteam übers ganz Gesicht: Das TLM-107 beschert uns dank seines sehr guten Auflösungsvermögens und seiner für diesen Typ hohe Ausgewogenheit sehr klare, detailreiche Aufnahmen. Es kommt mit den unterschiedlichsten Stimmlagen, in unserem Fall Mezzosopran und Bariton, bestens klar: Die Stimmen klingen immer konturiert und schön fokussiert, dabei gleichzeitig natürlich und frisch. So stellen wir uns einen modernen Klang vor. Der Nahheitseffekt ist nur durchschnittlich ausgeprägt, was dem natürlichen Klangeindruck zugute kommt, die Druckgradiententypische Bassanhebung bei Nahstbesprechung lässt sich so gezielt und kreativ einsetzen.
Das Impulsverhalten des TLM 107 ist ausgezeichnet und wird nur von den Meistern in dieser Disziplin, den Kleinmembranen übertroffen. Das kommt sehr unserer Gitarrenaufnahme zugute, denn das Mikrofon ist den Anschlags-Transienten dicht auf den Fersen, sodass die Aufnahme mit Dynamik und Lebendigkeit gefällt. Wir würden dem TLM 107 ob seines sehr guten Impulsverhaltens ohne Weiteres auch die Aufnahme von Perkussion oder des Klaviers anvertrauen. Außerdem fügen sich die TLM 107-Aufnahmen perfekt in virtuelle Hallräume ein. Das ist eine Eigenschaft, die gute Studio-Mikrofone auszeichnet, weswegen das TLM 107 ohne Weiteres als tonangebender Hauptdarsteller besetzbar ist. Wenn Sie es selbst nachhören wollen: Unsere Gitarrenaufnahme gibt es unter https://www.professional-audio.de/klangbeispiele-2/ in voller Länge zu hören.

Fazit
Das Neumann TLM 107 ist ein modernes, universell einsetzbares und technisch ausgereiftes Großmembranmikrofon fürs Sprecher-/Ton-Studio – und das ganze Aufnahmeleben.

 

 

Erschienen in Ausgabe 05/2014

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 1442 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut