„Raw-Modus“ für Audio
Mehr Flexibilität für‘s Studio: Das Großmembran-Mic Lewitt LCT 640 TS erlaubt es, die Richtcharakteristik noch in der Postproduction stufenlos zu verändern oder mit nur einem Mic kreative Zweikanal-Aufnahmen zu erstellen.
Von Sylvie Frei
Großmembran-Mikrofone mit umschaltbarer Richtcharakteristik gibt es wie Sand am Meer. Alle unterscheiden sich mehr oder weniger in ihrem Klangbild und haben – je nach Anspruch, Einsatzzweck und Geschmack des Nutzers – ihre Berechtigung. So wie auch ein Konzertpianist je nach musikalischem Material beim Verleiher zwischen unterschiedlichen Flügeln wählen würde, so wählt auch der Toningenieur sein Mikrofon aus. Das technische Prinzip wird dabei von einem zum anderen umschaltbaren Großmembran-Modell nicht komplett neu erfunden. Tatsächlich basiert eine Mehrzahl dieser Mikrofone auf einer in der Bauart ähnlichen Doppelmembran-Kapsel. Wirklich herausstechende Zusatzfeatures findet man auf dem Markt eher selten.
Eine der Ausnahmen ist das brandneuen LCT 640 TS des österreichischen Herstellers Lewitt. Für einen Preis von 899 Euro (UVP) bietet das Transistor-Mic mit Doppelmembran-Kapsel nicht nur die Direktanwahl von fünf Richtcharakteristiken (Kugel, Breite Niere, Niere, Superniere, Acht), sondern auch das nachträgliche, stufenlose Ändern der Richtcharakteristik mit dem kostenfreien Lewitt Polarizer Plug-in. Das Polarizer-Plug-in arbeitet mit den Schnittstellen VST, AU und AAX – es kann sowohl mit PCs als auch Macs und allen gängigen DAWs eingesetzt werden. Dies ist möglich, da sich die Signale beider Membranen separat aufzuzeichnen lassen. Ein zusätzlicher Mini-XLR-Anschluss samt beiliegendem Adapter auf normales XLR macht‘s möglich. Auf diese Weise lassen sich abgesehen von der nachträglichen Anwahl des Polar Pattern auch M/S-Stereo-Aufnahmen mit nur einem Mikrofon kreieren – auch eine nachträgliche Rotation des Mics um 180° ist realisierbar.
Das Lewitt LCT 640 TS ist darüber hinaus mit einem dreistufigen Hochpassfilter und Dämpfungsschalter ausgestattet und wird in einem robusten, gepolsterten Kunststoff-Transportkoffer gemeinsam mit der elastischen LCT 40 Shx-Mikrofonhalterung, dem LCT 40 Wx-Schaumstoff-Windschutz, einem Kunstleder-Etui und dem Popschutz LCT 50 Psx geliefert.
Äußeres
Das LCT 640 TS verbirgt sich in einem kompakten, rechteckigen Gehäuse aus schwarzem Metall mit abgeschrägten Kanten. Der Korb besteht aus einer fein- und einer grobmaschigen Aluminium-Wabenstruktur. Durch die beiden Wabennetze ist die Membranrahmen in Lewitt-Grün auffällig gestaltete Doppelmembran-Kapsel zu sehen. Sie besteht aus zwei Rücken an Rücken stehenden goldbeschichteten, nur wenige Mikrometer dünnen Membranen, die für sich gesehen Nierencharakteristik besitzen – dazwischen sitzt die Elektrode. Werden beide Membranen unterschiedlich stark unter Spannung gesetzt und/oder gleich oder gegensätzlich polarisiert, ergeben sich die verschiedenen Richtcharakteristiken Kugel, breite Niere, Niere, Superniere und Acht. Auf Seite der Haupteinsprechrichtung des LCT 640 TS sind sämtliche Anzeige- und Bedienelemente verbaut. Dazu zählen drei Tasten und mehrere Anzeigen, die den Betriebsmodus, im Multi-Pattern-Modus die Richtcharakteristik, die Stellung des Hochpassfilters und der Vordämpfung sowie eventuelles Clipping durch farbige Beleuchtung anzeigen. Weiße Beleuchtung signalisiert den Multi-Pattern-Modus, grün den Dual-Output-Modus, rot eine Übersteuerung. Das LCT 640 TS kommt mit einer leichten aber stabilen Kunststoff-Spinne, die das Mikrofon elastisch auf dem Stativ hält. An diesem lässt sich durch einen Magnet auch der im Lieferumfang enthalte Gitter-Popschutz befestigen, der aber nur eine der beiden Membranen schützt.
Handling
Multi-Pattern-Modus
Das Handling des Mikrofons ist im Grunde simpel. Soll es wie ein normales Mono-Mikrofon mit vorher fest eingestellter Richtcharakteristik operieren, lässt sich mit der mittleren der drei Tasten die Richtcharakteristik in fünf Pattern einstellen. Über den linken Schalter lässt sich das Hochpassfilter, über den rechten die Vordämpfung justieren – für beide Optionen stehen drei Einstellungen zur Auswahl (siehe Steckbrief). Das Hochpassfilter eignet sich zum Ausfiltern tieffrequenter Störgeräusche wie Trittschall oder Verkehrslärm. Der Dämpfungsschalter ist für die Anpassung auf besonders laute Signalquellen ausgelegt und erlaubt in diesem Fall mehr Spielraum bei der Gain-Einstellung am Preamp. Zusatzfunktionen: Wird die linke Taste länger als zwei Sekunden gehalten, wird die Tastensperre aktiviert beziehungsweise deaktiviert – so kann der Nutzer auf Nummer sicher gehen, dass keine Einstellung aus Versehen verstellt wird. Wird die rechte Taste länger als zwei Sekunden gehalten lässt sich die Clipping-History aktivieren oder wieder löschen. Ging eine Aufnahme in den Übersteuerungsbereich, bleibt in diesem Fall die rote LED an – so wird keine Übersteuerung mehr übersehen.
Im Multi-Pattern-Modus genügt es, das Mikrofon über den Haupt-XLR-Anschluss mit dem Vorverstärker zu verbinden und die Phantomspannung einzuschalten. Dann kann wie gewohnt aufgenommen werden.
Dual-Output-Modus
Etwas anders gestaltet sich das Setup im Dual-Output Modus, der sich im Vergleich zur digitalen Kamera-Technik als der Raw-Format des Audio beschreiben lässt. In diesem Modus muss sowohl der Haupt-XLR-Anschluss als auch der Mini-XLR-Anschluss mit dem Preamp verbunden und mit Phantomspannung versorgt werden. Die Pattern-Auswahl ist in diesem Modus deaktiviert – beide Membranen werden in ihrer ursprünglichen Nierencharakteristik aufgezeichnet. Hochpassfilter oder Vordämpfung wirken sich auf beide Signale aus. Achtung: Es kann bis zu 20 Sekunden dauern, bis beide Membranen voll aufnahmebereit sind.
Polarizer-Plug-in
Das Polarizer-Plug-in hat Lewitt für den Dual-Output-Modus geschaffen, um um auf besonders einfachem Wege die Richtcharakteristik nachträglich stufenlos im Spektrum von Kugel bis Acht einzustellen. Dazu genügt es sich, das Plug-in auf der Herstellerseite (www.lewitt-audio.com) herunterzuladen und nach den Anweisungen zu installieren – bei Windows etwa die dll-Datei aus dem passenden Schnittstellen-Ordner in den Plug-in-Ordner der DAW zu kopieren. Der Polarizer kommt sowohl mit Windows als auch Mac sowie mit den gängigen Plug-in-Schnittstellen VST, AU oder AAX zurecht. Nun genügt es, die aufgezeichneten Signale des LCT 640 TS auf eine Stereospur in der DAW zu routen und das Polarizer Plug-in zu aktivieren. Dieses lässt über einen einfachen Slider die Richtcharakteristik fließend einstellen. Welche Mikrofonseite dabei die dominante ist lässt sich ebenfalls justieren – sprich das Signal kann um 180° gedreht werden. Eine Kugelcharakteristik ist damit sowohl auf Basis der vorderen als auch der hinteren Membran realisierbar. Zudem erlaubt es der Polarizer die Output-Lautstärke zu justieren. Sicherlich lässt sich derartiges auch über intelligentes Mixing direkt in der DAW realisieren, das Polarizer Plug-in macht es jedoch besonders komfortabel – Daumen hoch!
Möglichkeiten
Mehr Raumanteil, weniger Raumanteil, mehrere Signale aus unterschiedlichen Richtungen zur gleichen Zeit und vieles mehr lassen sich mit dem LCT 640 TS spielend realisieren. Der Hersteller erklärt außerdem im ausführlichen PDF-Handbuch, wie sich mit nur einem LCT 640 TS eine Mitte/Seite-Stereo-Aufnahme realisieren lässt – auf zwei Wegen. Hier die einfache Lösung: Die Seite des Mikrofons auf die Signalquelle ausrichten, Mitten-Signal auf die linke, Seiten-Signal auf die rechte Stereospur routen und aufnehmen. Dreht man nun am Panning-Reglern der Spur, lässt sich die Stereobreite einstellen. In der Mitte ist das Signal Mono, hart links und hart rechts erlauben das breiteste Stereopanorama.
Messwerte
Im Messlabor zeigt sich das LCT 640 TS extrem souverän. Mit einer Empfindlichkeit je nach Richtcharakteristik 25,8 (Kugel) bis 30,0 mV/Pa (Acht) gehört es zu den durchschnittlichen lauten Mikrofonen. Starke bis mittlere Preamps können so in der Regel auf Ideallast laufen – Verstärkerrauschen ist damit kein Thema. Vom Mikrofon selbst dürfte der Nutzer im Allgemeinen ohnehin kein Rauschen hören. Mit Werten von 77,7 (Kugel), 81,9 (Niere) und 80,7 dB (Acht) gemessen bei einem Studio-Normpegel von +4 dBU, ist das Lewitt Mic gleich auf oder besser als unser Kleinmembran-Messmikrofon aufgestellt. Alle Achtung! Die Frequenzgänge sehen je nach Charakteristik etwas unterschiedlich aus. Allen gemeinsam ist eine mehr oder weniger breite Anhebung auf einer Höhe von 5 kHz um maximal +4 dB. Darüber findet sich ein deutlicher Abfall der Kurven auf einer Höhe von 9 kHz und darüber um jeweils maximal -8 dB, was auf einen präsenten Klang mit etwas weniger offenen Extrem-Höhen hinweisen kann, aber nicht muss – Klang- und Messeindruck stimmen schließlich nur selten überein.
Klang
Tatsächlich besitzt das LCT 640 TS einen überaus sauberen, klaren und akkuraten Klangcharakter. Die Präsenz-Anhebung macht sich auch klanglich deutlich bemerkbar – nicht jedoch der gemessene Abfall in den obersten Höhen. Im Gegenteil: Das Lewitt Mic klingt durchaus offen, wenn auch in den obersten Höhen sehr kontrolliert, in der Textur im positivsten Sinne ein wenig steril. Dabei überträgt es alle Signaltypen gleichermaßen klar konturiert mit großem Detailreichtum und Akribie. Der Nahbesprechungs-Effekt ist für ein Großmembran-Mikrofon eher zurückhaltend bis durchschnittlich ausgeprägt und lässt sich zur dezenten Stimmgestaltung einsetzen. Der Grundklang verändert sich auch beim Verändern der Richtcharakteristik nicht – ganz gleich, ob diese am Mikrofon oder im Nachhinein über das Plug-in justiert wurde. Lediglich der veränderte Raumklang-Anteil zeigt erwartungsgemäß seine Wirkung.
Einsatzempfehlung
Das LCT 640 TS ist ein überaus vielseitig einsetzbares Mikrofon, das mit so ziemlich jeder Art von Signalquelle zurechtkommt und zum munteren Experimentieren mit Raum und Stereo geradezu einlädt. Als seine größte Stärke sehen wir seine Fähigkeit, Geräusche und Tonereignisse, die sich im Raum bewegen, stimmig und präzise einzufangen. Damit ist es für die Aufnahme von Film-, Game- und Hörbuch-Geräuschen sowie räumlichem Atmo-Ton prädestiniert. Aber auch spannende räumliche oder weniger räumliche Mono- oder Stereoaufnahmen von musikalischem Material oder Sprecherstimmen kann der Nutzer dem bedenkenlos LCT 640 TS zumuten, solang der Klangcharakter mit der gewünschten Ästhetik übereinstimmt.
Fazit
Das Lewitt LCT 640 TS präsentiert sich im Test als hochflexibel und kreativ einsetzbares Aufnahme-Tool. Die Option, die Charakteristik noch im Nachhinein zu bestimmen, könnte so manchen perfekten Take in einer weniger perfekten räumlichen Umgebung retten und bietet progressiven Produzenten ein ganzes Arsenal von neuen Möglichkeiten, ihre Aufnahmen in Szene zu setzen. Ein solches Werkzeug für gerade einmal knapp 900 Euro können wir nur wärmstens empfehlen.
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