Der kleine Unterschied

„Offene Niere“ nennt Schoeps seine neuentwickelte Kapsel MK 22, die das modulare Colette-System und die CCM-Kompaktmikrofone um eine feine Klangvariante bereichert. 

Von Harald Wittig 

Der Karlsruher Mikrofonhersteller Schoeps zählt zu den renommiertesten und innovativsten Herstellern von hochwertigen Schallwandlern. Schoeps war eine der ersten Mikrofonmanufakturen überhaupt, die aus Gründen der bestmöglichen Signaltreue konsequent auf die Kleinmembranbauweise gesetzt haben. Um zudem ein Höchstmaß an Flexibilität – sowohl in Hinblick auf die verschiedenen Aufnahmesituationen als auch hinsichtlich eines klanglichen Variantenreichtums – schuf der Hersteller vor über drei Jahrzehnten das modulare Colette-Systems, welches das umfangreichste seiner Art darstellt. Bislang umfasste das System allein 20 Kapseln unterschiedlichster Bauart und Richtcharakteristik, die ihrerseits mit einer Palette von sieben Mikrofonverstärkern – darunter beispielsweise auch der Röhrenverstärker M 222 und der Digitalverstärker CMD 2U mit AES42-Schnittstelle – frei kombinierbar sind. Da sollte eigentlich jeder Toningenieur fündig werden und sich sein persönliches, universell einsetzbares Wunschsortiment an Mikrofonen zusammenstellen können. Offenbar doch nicht jeder, denn seit Mitte 2008 gibt es bei Schoeps eine neue Kapsel: die MK 22. Die Entwicklung dieses besonderen Kapseltyps, deren Richtcharakteristik zwischen der klassischen und der Breiten Niere liegt, ging auf das Bestreben amerikanischer Toningenieure zurück. Diese wünschten sich einen neuartigen Kapsel-Typ, übrigens vorzugsweise für Klavieraufnahmen, dessen Richtwirkung geringfügig schwächer ausgeprägt ist als bei der Nieren-Kapsel MK 4, ohne sich dabei wie beispielsweise die Breite Niere MK 21 zu deutlich an die Kugel anzulehnen. Herausgekommen ist die MK 22, die recht instruktiv „Offene Niere“ getauft ist und sich vor allem als Solisten-, Sprecher- oder Stützmikrofon emfpiehlt. Erhältlich ist die MK 22 für rund 670 Euro für das Colette-System, alternativ bietet Schoeps als platzsparende Alternative auch das Miniaturmikrofon CCM 22 an: Dabei handelt es sich um ein gerade mal daumengroßes Kompaktmikrofon, bei dem die MK 22 und der Verstärker eine untrennbare Einheit bilden. Gegenstand dieses Testes ist das 1.360 Euro teuere Winzmikrofon CCM 22, von dem wir gleich zwei Exemplare einschließlich Stereo-Montagebügel STC 22 bestellt. Anwender des Colette-Systems erfahren gleichwohl alles über die neue Kapsel MK 22. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der MK 22 um eine besondere Nierenkapsel, die eine Kombination aus der klassischen Niere MK 4 und der Breiten Niere MK 21 dar. Die Richtwirkung der MK 22 ist stark an die MK 4 angelehnt, klanglich soll sich die neue Kapsel hingegen eher an der MK 21 orientieren.

Damit das etwas verständlicher wird, müssen wir ein wenig in die Mikrofontheorie einsteigen: Bei der Nierencharakteristik wird von hinten einfallender Schall nahezu vollständig ausgelöscht, die seitliche Bedämpfung für mit einem Winkel von 90 Grad einfallendem Schall beträgt in der Regel sechs Dezibel. Aus diesem Grund sind Nierenmikrofone die Allrounder für Studio- und Live-Einsatz, denn sie bieten eine sehr gute Kanaltrennung bei hoher Rückkopplungsdämpfung. Die Nierencharakteristik weist zudem einen vergleichsweise hohen Bündelungsgrad auf: Bei der Kugel beträgt der Bündelungsgrad 1, bei der Niere 3, weswegen ein Nierenmikrofon bei gleicher Hallbalance 1,7 mal weiter als ein Kugelmikrofone zur Schallquelle aufgestellt sein darf. Vom Bündelungsgrad zu unterscheiden ist das Bündelungsmaß, das angibt, um wie viel Dezibel abgeschwächt ein Mikrofon den Diffusschall im Verhältnis zum Direktschall wiedergibt: Bei der Niere beträgt das Bündelungsmaß 4,8 Dezibel, mithin ist dieser Kapseltyp vergleichsweise unempfindlich gegen Umgebungsgeräusche oder Raumschall. Allerdings gibt es Aufnahmesituationen, wo der hohe Bündelungsgrad und das nicht minder hohe Bündelungsmaß der klassischen Niere nicht ideal sind. Das ist vor allem beim Stützen größerer Instrumentengruppen, beispielsweise einer Streichergruppe bei Orchesteraufnahmen oder der Saxofon-Sektion einer Big Band der Fall. In diesen Fällen kommen hin und wieder Mikrofone mit der Richtcharakteristik Breite Niere zum Einsatz. Die Breite Niere ist eine Zwischenform aus Kugel und Niere, die Bedämpfung seitlich zur Null-Grad-Einsprechachse eintreffenden Schalls beträgt in ihrem Fall vier Dezibel, rückwärtig eintreffender Schall ist mit zehn Dezibel bedämpft. Die Breite Niere erfasst folglich mehr Umgebungsgeräusche, ist gleichzeitig auch weniger stark gerichtet als die Niere. Der Bündlungsgrad beträgt 2,08 bis 1,71 – das ist abhängig von der jeweiligen Kapselkonstruktion –, das Bündelungsmaß liegt zwischen 3,17 bis 2,34 Dezibel. Damit erfasst die Breite Niere einen weiteren Bereich, kann also auch größere Schallquellen bei vergleichsweise geringem Abstand erfassen und nimmt mehr Raumschall auf. Gleichzeitig sind solche Mikrofone in der Regel weniger anfällig gegen Off-Axis-Verfärbungen. Auch die besten Nieren weisen nämlich geringe Klangverfärbungen auf, wenn sich beispielsweise engagierte Sänger oder Sprecher bei der Aufnahme aus der Hauptachse herausbewegen. Mit der Kapsel MK 4 (Niere) und der Kapsel MK 21 (Breite Niere) hat Schoeps bisher zwei der beschriebenen Typen im Angebot, die, nicht nur von den nackten technischen Daten her, als vorbildlich gelten: Die MK 4-Kapsel bezeichnen nicht nur Schoeps-Fans gerne als selten „perfekte klassische Niere“, die sich durch hohe klangliche Transparenz und ausgezeichnete Rückwärtsdämpfung auszeichnet. Im Rahmen des Tests des Digital-Mikrofoninterfaces von RME, dem DMC-842 in Ausgabe 5/2008 konnten wir uns selbst von der hohen Neutralität der MK 4, die mit einer hochfeinen Auflösung bei vorbildlichen Impulsverhalten einhergeht, überzeugen. Die MK 21 soll dagegen vor allem eine ausgeprägtere Tiefenwiedergabe bei nur abgeschwächt vorhandenem Nahbesprechungseffekt aufweisen. Insgesamt komme die MK 21 dem Vorbild in puncto Linearität, der Kugel, am nächsten. Die neue MK 22 springt in die schmale Lücke, die zwischen der MK 4 und der MK 21 bleibt.

Sie soll immer dann zum Einsatz kommen, wo die MK 4 zu stark gerichtet ist, die MK 21 wiederum zu viel an Umgebungsgeräuschen erfasst. Es handelt sich bei der „Offenen Niere“ folgerichtig um eine weniger stark gerichtete Nierenvariante mit einer seitlichen, 90-Grad-Bedämpfung von nur fünf Dezibel. Im Vergleich zur MK 21 löscht sie rückwärtig einfallenden Schall mit 16 Dezibel stärker aus, soll sich gleichwohl klanglich an der Breiten Niere orientieren. Soll heißen: Bei verbesserter Tiefenwiedergabe und nur gering ausgeprägtem Nahbesprechungseffekt gewährleiste die MK 22 einen sehr natürlichen Klang. Außerdem soll die „Offene Niere“ weitgehend resistent gegen Off-Axis-Verfärbungen – insoweit zeigt sich hier wiederum die Verwandtschaft zur MK 21 – sein. Soviel zunächst zur Konstruktion und den technischen Daten der MK 22. Wie sich die neue Kapsel klanglich verhält, bringt die Aufnahmepraxis an den Tag. Befassen wir uns nun näher mit unserem Testkandidaten, dem CCM 22, genauer der Verstärkerelektronik. Der Verstärker dieses Mikrofons entspricht vom Design und dem Aufbau den CMC 6-Verstärkern des Colette-Systems. Dementsprechend lassen sich auch die CCM-Mikrofone wahlweise mit 12 oder 48 Volt Phantomspeisung betreiben. Der Verstärker arbeitet mit einer übertrager- und kondensatorfreien Ausgangsstufe im A-Betrieb, die bei sehr niedrigen Verzerrungswerten eine besonders kleine Ausgangsimpedanz aufweisen, was den Betrieb an sehr langen Kabeln – Schoeps gibt eine Maximallänge von immerhin 300 Metern an – gewährleistet. Es gibt die CCM-Mikrofone in zwei Ausführungen: Die sogenannte CCM-L-Version, wozu auch unser Testkandidat zählt, wird mit einem dünnen Anschlusskabel geliefert, das in einem XLR-Stecker endet. Zur Verbindung mit dem Ausgang des Verstärkers dient ein Miniatur-Lemostecker, der mittels Überwurfmutter fest und klappersicher mit dem Mikrofon verschraubt wird. Die CCM-U-Version hingegen treibt die Miniaturiseirung im Mikrofonbau auf die Spitze: Diese Mikrofone sind nochmals um sieben Millimeter kürzer und gleichzeitig leichter als die CCM-Ls, das Anschlusskabel ist dicker und fest mit dem Mikrofonverstärker verbunden. Davon abgesehen steht die CCM-Reihe dem Colette-System in puncto Vielfalt kaum nach: Lediglich die mechanisch umschaltbare Kapsel MK 6, die drei Richtcharakteristiken, nämlich Kugel, Niere und Acht, zur Verfügung stellt und die Röhrenverstärker bleiben exklusiv dem Modularsystem vorbehalten. Das CCM 22 ist wirklich ein kleines Schmuckstück, das auch routinierte Mikrofontester voller Ehrfurcht und nur ganz behutsam aus der edlen Holzschatulle nehmen. Eigentlich sollte jeder, der sich für fein gearbeitete Miniaturen begeistern kann, an dieses Meisterwerk sein Herz verlieren, denn die Verarbeitung ist über jeden Zweifel erhaben. Die Goldgravur auf dem mit Nextel beschichteten Gehäuse – eine Schoeps-Spezialität, die Reflexionen vermeiden helfen soll –, unterstreicht zusätzlich die Wertigkeit des CCM 22.

Auch das Anschlusskabel ist von sehr guter mechanischer Qualität, was sich allein daran zeigt, dass es sich nicht verdrillt und nach jedem Gebrauch mitsamt dem CCM 22 und der putzigen Klemme sicher zur Ruhe betten lässt. Der ebenfalls mit Nextel beschichtete Montagebügel STC 22 vereinfacht Aufnahmen im ORTF-Verfahren oder ähnlichen Aufnahmetechniken in Äquivalenz-Stereofonie. Allerdings kostet es uns einige Mühe, die beiden CCM 22 an den STC 22 anzubringen. Ohne Mithilfe eines Werkzeugs gelingt es uns jedenfalls nicht. Dafür sitzen die Mikrofone hernach unerschütterlich fest und im perfekten Aufnahmewinkel, so dass das komplette Arrangement lediglich am Stativ zu befestigen ist, umständliche Ausrichtung und Justage fällt weg. Schoeps bietet keine „Matched Pairs“ an, da jedes Mikrofon den allgemeingültigen Katalogangaben entsprechen soll. Wir machen die Probe aufs Exempel und unterziehen die beiden CCM 22 mit den Seriennummern 9474 und 9475 der üblichen Messroutine im Labor von Professional audio. Der Herstellers hat nicht zu viel versprochen: Beide Mikrofone sind zumindest messtechnisch gleich, die ermittelten Messergebnisse mithin austauschbar. Die Empfindlichkeit beträgt 12,0 beziehungsweise 12,2 mV/Pa, es handelt sich also um durchschnittlich empfindliche, nicht allzu laute Mikrofone, was ausweislich früherer Test durchaus kennzeichnend für Schoeps-Mikrofone ist. Auch unser Referenzmikrofon, das MK 2H/CMC 6 weist eine vergleichbare Empfindlichkeit auf. Die Messwerte für die Geräuschpegelabstände sind mit jeweils 77,5 und 77,3 auf sehr gutem, gewissermaßen standesgemäß hohem Niveau. Sollte auf einer Aufnahme störendes Rauschen zu hören sein, sind dafür jedenfalls nicht die Mikrofone verantwortlich. Die austauschbaren Frequenzgänge weisen zunächst einen gleichmäßigen Abfall unterhalb etwa 150 Hertz auf, was darauf schließen lässt, dass der Hersteller hiermit bewusst den Nahbesprechungseffekt kompensiert hat. Bei den abgebildeten Messkurven ist zu berücksichtigen, dass Professional audio die Frequenzgänge unter normalen Studiobedingungen ermittelt. Eingedenk dessen, decken sich die Kurven weitgehend mit den unter Laborbedingungen ermittelten individuellen Referenzkurven, die beiden Mikrofonen beiliegen. Auffällig ist auch eine weitere Senke zwischen zwei und sieben Kilohertz, die im Gipfel, bei fünf Kilohertz jedoch lediglich vier Dezibel ausmacht und sich hörbar nicht auswirken. Wer ein Schoeps-Mikrofon erwirbt, erwartet höchstmögliche Neutralität und Signaltreue. Nicht umsonst bezeichnen sowohl überzeugte Fans als auch distanzierte Kenner die Schallwandler aus Karlsruhe als „Messmikrofone“. Die beiden CCM 22 punkten jedenfalls beim Abhören der erstellten Sprach- und Gitarrenaufnahmen schon nach den ersten Sekunden mit einer hochfeinen, sehr detailverliebten Auflösung. Diesen Mikrofonen beziehungsweise der neuen Kapsel MK 22 entgeht praktisch kein Detail und die Abbildung besitzt eine eigentümliche Dreidimensionalität: So ist bei den Gitarrenaufnahmen – zum Einsatz kommt eine handgebaute Akustikgitarre im Selmer-Style aus der Werkstatt des fränkischen Gitarrenbaumeisters Jürgen Volkert – die Bewegung der Greifhand bei der Ausführung des Vibratos wunderschön plastisch eingefangen.

Hinzu kommt eine Tiefenstaffelung der verschiedenen Schallereignisse: So erklingt das Instrument selbst näher am Ohr, während die mehr oder weniger dezenten Atemgeräusche des Spielers weiter hinten zu hören sind. Das ist übrigens sowohl bei Mono- als auch Stereoaufnahmen deutlich zu hören. Im Vergleich zur Nierenkapsel MK 4 klingt die MK 22 ein wenig weicher und nicht ganz so brillant, außerdem ist das Klangbild etwas weiter und offener. Es handelt sich insoweit allerdings nur um Nuancen, denn Natürlichkeit ist bei der neuen Kapsel oberste Prämisse. Tatsächlich erweist sich die neue Kapsel auch weitgehend resistent gegenüber Off-Axis-Verfärbungen und auf den Sprach-Aufnahmen ist praktisch nicht herauszuhören, dass sich unser Sprecher gemäß Regieanweisung diesmal bewusst bewegt hat. Die Tiefenwiedergabe ist für einen Druckgradienten sehr gut, wenngleich – das machen die Vergleichstakes mit unserer Referenzkapsel, der Schoeps MK 2H, deutlich – die vorbildliche Basswiedergabe eines Druckempfängers konstruktionsbedingt unerreichbar bleibt. Dafür ist der unvermeidbare Nahbesprechungseffekt sehr gering ausgeprägt, erst bei einem sehr geringen Abstand von 15 Zentimetern zum Sprecher oder zum Instrument fällt eine deutliche Tiefenandickung auf. Für Aufnahmen im ORTF-Verfahren eignet sich die neue Kapsel ganz hervorragend, sofern der Aufnahmeraum selbst beziehungsweise die Schallquelle im Raum von Natur aus sehr gut klingt. Das Quäntchen mehr an Rauminformationen, das die „Offene Niere“ konstruktionsbedingt einzufangen vermag, sorgt für ein lebendiges, naturnahes Klangbild. Deswegen sollte eigentlich jeder Schoeps-Fan, der sich für die MK 22 interessiert unbedingt ein Paar testen, denn nach unseren Erfahrungen ist die wahre Domäne der neuen Kapsel – bei all ihren beschriebenen Vorzügen – die stereofone Aufnahme. Damit Sie selbst einen ersten Eindruck vom Klang des CCM 22 beziehungsweise der Kapsel MK 22 bekommen, haben wir drei Klangbeispiele erstellt. Diese finden Sie wie gewohnt in der Soundbank im Wave- und MP3-Format auf unserer Website www.professional-audio.de. Nach Eingabe des Freischaltcodes smk2294ni erhalten Sie Zugang zu den Soundfiles.

Fazit

Die neue Schoeps-Kapsel MK 22 punktet als Sonderform der Niere mit einem sehr natürlichen Klang bei hervorragender Auflösung und Impulsverhalten. Im Vergleich zur klassischen Niere ist das Klangbild um feine Nuancen weiter und offener, was die MK 22 nachhaltig für stereofone Aufnahmen im ORTF-Verfahren empfiehlt. Ob als Kompaktmikrofon CCM 22 oder als Wechselkapsel das modulare Colette-System: Der Anwender erhält ein Spitzenmikrofon mit dem einem gegenüber konventionellen Nierentypen kleinen Unterschied im Klang.

Erschienen in Ausgabe 07/2009

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 1615 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut