Die größten Zwerge

Für Zweikanal-Stereoaufnahmen in XY-Anordnung oder im ORTF-Verfahren bedarf es zwei aufeinander abgestimmter Mikrofone. Bei den Stereo-Paaren M-930 und M-950 von Microtech Gefell wird obendrein das benötigte Zubehör mitgeliefert.

Von Harald Wittig

Der ostdeutsche Hersteller Microtech Gefell, der bis 1972 noch unter dem Namen des Firmengründers Georg Neumann firmierte, und dessen Produkte in den Zeiten des realexistierenden Sozialismus als echte Ostalternative zu den Neumann-Mikro­fonen aus dem Westen galten, gehört zu den glücklichen Gewinnern der Wiedervereinigung. Im Unterschied zu anderen deutschen Traditionsunternehmen, die beim Versuch, die ehemals neuen Bundesländer in die metaphorischen blühenden Landschaften zu verwandeln, auf der Strecke geblieben sind, schaffte es das in Thüringen ansässige Unternehmen, sich als einer der führenden Mikrofonhersteller zu behaupten. Hierzulande sind Mikrofone aus Gefell für Mess- und Aufnahmetechnik, unter anderem in den traditionell anspruchsvollen Rundfunkanstalten, hochgefragt. Auch in den USA haben die edlen Thüringer einen vorzüglichen Ruf. Das liegt einerseits an der hohen Fertigungsqualität der Gefell-Schallwandler, vor allem aber auch an ihren Klangeigenschaften: Für Kenner sind Mikrofone von Microtech Gefell Synonym für hochfeine Auflösung, verbunden mit äußerster Klangtreue. Sie spielen in einer Liga mit Neumann oder Schoeps.

Diese Ligatauglichkeit stellte das Kleinmembran-Kondensator­mikrofon M-300 aus Gefell im ersten Mikrofon-Vergleichstest (siehe Heft 5/2006) eindrucksvoll unter Beweis: Es konnte sich aufgrund seiner Klangqualität gegen die teilweise mehr als doppelt so teure Konkurrenz behaupten und war in der Folgezeit ein gerne gewählter Partner für akustische Testaufnahmen, bei denen es auf detailgenaue Aufzeichnung der Signalquelle ankommt. Grund genug für die Redaktion, weitere Mikrofone aus Gefell zu testen, zumal unsere Leserbefragung im vergangenen Jahr bestätigt hat, dass viele Mikrofonkäufer durchaus bereit sind, etwas mehr auszugeben.

Unsere Wahl fiel auf die Großmembran-Kondensatormikrofone M-930 und M-950, denn diese sind nicht nur universell einsetzbar, sondern werden auch als gematchte Stereopaare für XY- oder ORTF-Anwendungen (siehe Kasten auf Seite XX) nebst raffiniertem Zubehör angeboten. Zum Test traten deshalb ein M-930- und ein M-950-Stereoset an. Beide rangieren im Produktportfolio von Microtech Gefell etwa im Mittelfeld und kosten gut 2.000 Euro. Zugegeben, das ist kein Schnäppchenpreis, aber wenn die Sets halten, was der Hersteller verspricht, kann sich die Investition doch lohnen.

Wer erstmals die wertigen Holzetuis öffnet, erlebt eine Überraschung: M-930 und M-950 sind außergewöhnlich kleine Mikrofone, die es sich zur Not auch im Saitenfach eines Gitarrenkoffers bequem machen können. Ihre Kleinwüchsigkeit bezieht sich jedoch nur auf die Gehäuse, die Kapseln sind echte 1-Zoll-Kaliber. Die hinter engmaschigen Drahtgittern gut geschützten Kapseln werden von einem gummierten Ring, der alleine Kontakt zum Metallkorpus hat, elastisch gelagert, um Körperschall und Stöße zu dämpfen. Aufgrund dieser gewissermaßen in die Mikrofone verbaute Trittschalldämpfung, genügt der serienmäßig mitgelieferte Stativhalter MH 93.1 – sofern der Musiker sich kaum bewegt, ein leises Instrument spielt und das Stativ solide ist. Da dies nicht immer der Fall sein wird, zahlt sich auch bei den beiden Gefells die Zusatzinvestition von rund 180 Euro pro Stück in elastische Halterungen des Typs EH 93 aus. Sie federn Vibrationen – wie unser Test bewies – deutlich effektiver ab, denn der Mikrofonschaft wird hier von einem speziellen Gummiring umschlossen. Wer eine klassische Spinne bevorzugt muss sich allerdings bei Drittherstellern umsehen – Microtech Gefell bietet keine an.

Wer M-930 und M-950 im Stereoset erwirbt, bekommt den Stativhalter mit einer feinen Lasergravur, die für Aufnahmen in XY- Technik oder ORTF-Anordung von hohem praktischen Nutzwert sind: Mit den Gravuren „0“, „45“ und „90“ Grad (XY) beziehungsweise „ORTF“ und den passenden Mikrofonträgern, dem Stereohalter SH 93 und dem Tandem TD 93, lassen sich die Mikrofone einfach ausrichten und können damit eine kostengünstige Alternative zu einem echten Stereomikrofon sein. Zumal die Duos einem Stereomikrofon den unerreichbaren Vorteil voraushaben, auch einzeln verwendbar zu sein – beispielsweise als Gesangs- oder in Kombination mit einem Kleinmembran-Mikrofon für die Instrumenten-Abnahme im A-B-Verfahren.

Die Verarbeitung der Mikrofone und des Zubehörs – für den Test stehen uns sowohl der SH 93 als auch der Tandem TD93 zur Verfügung – ist erstklassig: Die Gehäuse sind aus grundsolidem Stahl gefertigt und mit einem seidenmatten grauen Nickelfinish versiegelt, das sich angenehm seidig anfühlt – ein echter Fingerkuppenschmeichler. Wer es weniger silbrig mag, kann die Mikrofone zum gleichen Preis auch im dunklen Bronzefinish bekommen.

Die Einsprechrichtung ist bei beiden Mikrofonen durch die Typen- und Richtcharakteristikgravur markiert. M-930 und M-950 unterscheiden sich grundsätzlich nur durch Modifikationen im Kapselaufbau: Das M-930 hat Nierencharakteristik, beim M-950 ist es eine breite Niere. Die Großmembran-Kapseln basieren auf der berühmten M 7-Kapsel, die Georg Neumann bereits 1936 entwickelte. Hier handelt es sich aber um ein völlig neues Kapseldesign und nicht um die M7-Kapsel in einem besonders kompakten Gehäuse. Microtech Gefell betont im Datenblatt selbstsicher, dass die Kapseln von M-930 und M-950, sowie dem dritten Mikrofon im kleinwüchsigen Bunde, dem M-940 (mit Hypernieren-Charakteristik) sich durch einen außergewöhnlich ausgeglichenen, linearen Frequenzgang mit einer leichten Höhenpräsenz im Bereich von sieben bis elf Kilohertz und einer hohen Auslöschung für rückwärtigen seitlichen Schalleinfall auszeichnen sollen. Ob dies wirklich stimmt, zeigt sich spätestens im Professional audio Magazin-Messlabor.

Raffiniert und wirklich innovativ hat Microtech Gefell die Umsetzung der Polarisationsspannung der Kapseln gelöst: Hier kommt ein optisches Regelungsglied (Optokoppler) als Teil der transformatorlosen Elektronik zum Einsatz: Eine Leuchtdiode scheint auf eine Fotozelle, die so erzeugte Spannung wird durch einen speziell abgestimmten Impedanzwandler multipliziert, so dass die Mikrofonkapsel mit einer vergleichsweise hohen Spannung betrieben wird. Dadurch sollen die Mikrofone eine ungewöhnlich hohe Aussteuerbarkeit (zur störarmen Übertragung leiser Signale) sowie die verzerrungsfreie Abbildung auch sehr hoher Schalldrücke gestatten. Schließlich sei die elektromagnetische Verträglichkeit, also die Fähigkeit, in der elektromagnetischen Umwelt zufrieden stellend zu arbeiten, ohne dabei selbst elektromagnetische Störungen zu verursachen, besonders hoch. Auch hier gilt: Herstellerstolz und Eigenlobeshymnen gehören zum Verkaufsgeschäft, die ungeschminkte Wahrheit bringen Messlabor und Praxistest an den Tag.

Beim Testdurchlauf im Messlabor machen sowohl das M-930 als auch das M-950 mehr als nur eine gute Figur – beide Thüringer sorgten für echte Verblüffung: Die Frequenzgänge sind ein Muster an Gleichmäßigkeit und übertreffen in Sachen Linearität alle bisher von Professional audio Magazin getesteten Großmembran-Mikrofone. Sogar das in diesem Punkt bislang unangefochtene Oktava MK-102 in seiner von United Minorities getunten Version (Test in Heft 4/2007) kommt nicht ganz an die beiden vorbildlichen Zwerge aus Gefell heran. Interessanterweise können wir unsere Messkurven über die den Mikrofonen beiliegenden legen: Die Überdeckung ist frappant.

Im Detail zeigt sich, dass die Höhenanhebung oberhalb fünf Kilohertz im Maximum bei den angegebenen sieben Kilohertz liegt. Dennoch beträgt sie nur etwa 2,5 Dezibel bezogen auf ein Kilohertz. Beim M-950 ist die Höhenanhebung geringfügig ausgeprägter als beim M-930, dafür verläuft die Kurve des M-950 bis fünf Kilohertz schon fast unverschämt glatt. Beim M-930 fällt im direkten Vergleich ein winziger Abfall – es sind kaum mehr als zwei Dezibel – zwischen zwei und fünf Kilohertz auf. Aber auch dieser kann getrost vernachlässigt werden: Beide Mikrofone sind hier im Rahmen des technisch Machbaren perfekt. Da wir gematchte Pärchen testen, messen wir selbstverständlich beide Mikrofone eines Sets. Auch hier zeigt sich: Unter Berücksichtigung von Reflexionen am Stativ und Kabel, die sich nie 100prozentig vermeiden lassen, gleichen sich die Set-Mikrofone wie eineiige Zwillinge. Ausweislich der Frequenzgänge versprechen M-930 und M-950 hohe Klangtreue und Neutralität, was sie universell einsetzbar machen würde, für Stereo-Anwendungen dürften sie zwei perfekte Duos abgegeben.

Die Messwerte für die Empfindlichkeit, also die Ausgangspannung in Millivolt, die ein Mikrofon abgibt, wenn es mit einem Schalldruck von einem Pascal aus einem Meter Abstand beschallt wird, differieren geringfügig von den Herstellerangaben: Bei den M-930 sind es 20,7 beziehungsweise 20,3 mV/Pa gegenüber angegebenen 21,1 und 21,2 mV/Pa, bei den beiden M-950 ermittelt das Messlabor 20,6 statt 20,1 mV/Pa und 21,7 zu 19,8 mV/Pa. Diese Abweichungen sind allerdings von rein akademischem Interesse, da die Werte sehr dicht beieinander liegen. Im Ergebnis handelt es sich um mittellaute Mikrofone, die an das Rauschverhalten des Mikrofonverstärkers keine allzu hohen Ansprüche stellen, gleichwohl sollte der Preamp idealerweise bei Fremd- und Geräuschspannungsabstand die -80 dB-Marke nicht unterschreiten. Ansonsten würde der Anwender kaum vom vorbildlichen Rauschverhalten der Gefell-Mikrofone profitieren: Mit einem durchschnittlichen Topwert von 84,4 Dezibel für den Geräuschpegelabstand, kann störendes Rauschen auf einer Aufnahme verschiedene Ursachen haben – von diesen Mikrofonen kann es nicht kommen.

Wir testen die beiden Gefell-Pärchen sowohl solo mit Stimme und Konzertgitarre, als auch als Stereo-Sets, wobei wir mit beiden Sets Aufnahmen im XY- und ORTF-Verfahren machen. Alle Einzelspuren nehmen wir unter Cubase SX-3 mit 24 Bit/96 Kilohertz auf, als Interface-/Wandlerkombination dient uns die Lynx AES 16-Karte mit unserem Referenzwandler dem Lynx Aurora 8. Die Signale der Mikrofone verstärkt wie üblich der stets zuverlässige und klangneutrale Lake People Mic-Amp F355, das Lynx Team besorgt die verfärbungsfreie Digitalisierung. Zum Abhören setzen wir auf die ADAM S3 A- und die Geithain RL-906-Monitore; der elektrostatische Kopfhörer Stax SR-404 leistet gute Dienste beim tief hineinhören, denn eines sei vorweggenommen: M-930 und M-950 klingen sehr ähnlich und obwohl es definitiv hörbare Unterschiede gibt, fallen diese erst bei konzentriertem Hören auf.

Grundsätzlich gehören beide Mikrofone zu den neutralen Vertretern der Großmembran-Zunft. Darüber freut sich der Fan klanglicher Weichzeichner und Schönfärber weniger – auch Instrumentalisten und Sänger sollen hier schon die eine oder andere unliebsame Überraschung erlebt haben – Anhänger der reinen Klanglehre jedoch, lieben solche Mikrofone. Denn nur so sind die Voraussetzungen für ein möglichst genaues Abbild der klanglichen Wirklichkeit gegeben.

Mit Stimmen haben beide Mikrofone keine Probleme. Das M-930 klingt ein wenig heller und etwas präsenter als das M-950, weswegen es hohen Frauenstimmen nicht immer schmeichelt, bei Alt- und Tenorlagen, von tiefen Stimmen ganz zu schweigen, kommt es allerdings richtig gut, da es auch etwas breiige Stimmen schlank hält. Unter geschickter Ausnutzung des Nahbesprechungseffekts, der vergleichsweise wenig ausgeprägt ist, kann hier noch feinstufig variiert werden. Wer darauf konsequent verzichtet, hat kinderleichtes Spiel mit dem M-930: Dank seiner guten Empfindlichkeit und seiner vortrefflichen Rauscharmut schadet es überhaupt nichts, den Abstand zur Signalquelle und den Pegel zu erhöhen. Beim eingespielten Gitarrenstück, einer an Leo Brouwer angelehnten kleinen Etüde aus eigener Feder mit extremen Dynamiksprüngen, bewährt sich das M-930 bestens, denn es löst auch leiseste Stellen hochfein auf und bleibt dennoch spursicher beim abrupten Forte. Gerade das Pianoinstrument Konzertgitarre verlangt nach einem feinen, rauscharmen Mikrofon wie dem M-930, das mit dem zur geringen Lautstärke des Instruments nur scheinbar im Widerspruch stehenden weiten Dynamikumfangs zurecht kommt. Vor allem bei schnellen obertonreichen Impulsen wie Flageoletts oder am Steg angeschlagenen Basssaiten ist das Mikrofon sehr sicher.

Das M-950 ist in der Grundtendenz seinem Geschwister sehr ähnlich, klingt aber noch ein Winzigkeit ausgewogener. Bei vergleichbar gutem Impulsverhalten und ebenso hoher Auflösung scheint sich hier der überaus gleichmäßige Mittenbereich bemerkbar zu machen. Wo das M-930 um Nuancen mehr strahlt, wirkt das M-950 nüchterner, fast schon trocken. Nüchtern kann schon mal ernüchternd bedeuten – zumindest für Musiker, die sich meistens nur selbst beim Singen oder Spielen gehört haben. Könner und kritikfähige Künstler indes werden die fast schon fotorealistische Abbildungsleistung des M-950 begrüßen, immerhin kann derlei zusätzlich motivieren, noch sauberer und noch differenzierter zu spielen. Aber noch einmal zur Klarstellung: Beide Gefells sind klanglich auf einem Niveau. Das M-950 wirkt lediglich einen Hauch ehrlicher, was sich jedoch nur beim intensiven Vergleichshören über den Stax-Kopfhörer verifizieren lässt.

Der Aufbau für die XY-Anordnung und das ORTF-Verfahren sind dank der sehr effizienten Skalierung an den MH93.1-Halterungen und den beiden sehr guten Schienen schnell erledigt. Im Vergleich den konventionellen Methoden (siehe Kasten auf Seite XX) geht alles wirklich kinderleicht von der Hand, was zusätzlich für die beiden Gefell-Pärchen spricht. Bei den Aufnahmen mit beiden Verfahren bei einer Entfernung von etwa 40 Zentimetern zu den Mikrofonen, gleichen sich die Mikrofone klanglich noch weiter an, die genannten leichten Unterschiede sind zwar vorhanden, aber zumindest über die – durchaus guten – Monitore kaum hörbar. Hier wirken allerdings die unterschiedlichen Charakteristika der Mikrofone auf subtile Weise auf die Räumlichkeit respektive das Räumlichkeitsempfinden.

Die Aufnahmen mit dem M-950 haben, bedingt durch die breite Niere, mehr diffuse Schallanteile, was den Gesamtklang etwas breiter und tiefer macht. Das Mischungsverhältnis von Direkt- und Diffusschall verändert sich außerdem bei zunehmender Entfernung. Das M-930, das aufgrund seiner Nierencharakteristik ohnehin rückwärtigen Schall auslöscht, behält auch bei weiterem Abstand zur Signalquelle dieses Mischverhältnis bei. Daraus ergibt sich: Wer beispielsweise Ensembles (kleines Orchester, Chor und ähnliches) mit nur zwei Hauptmikrofonen in Kirchen oder Konzertsälen aufnehmen möchte, dürfte mit dem M-950-Set, vorzugsweise in ORTF-Anordnung, sehr gut bedient sein: Der Eindruck des Klangkörpers im jeweiligen, ebenfalls klingenden Raum, der je nach Position verschiedene klangliche Ergebnisse ergibt, die sich mit zwei M-950 wegen der durch die Richtcharakteristik bedingten anderen und variableren Mischverhältnisses von Direkt- und Diffusschall sehr gut abbilden lassen.

Fazit

Sowohl das M-930 als auch das M-950 überzeugen als Einzelmikrofone durch ungewöhnliche hohe Signaltreue, Neutralität und hohe Auflösung. Zudem punkten sie mit ihrer hohen Rauscharmut. Das M-950 klingt geringfügig ausgewogener, während das M-930 eine leichte Tendenz zum Hellen hat. Als Stereosets sind beide Mikrofone dank der hervorragenden Abstimmung und dem ebenso effektiven wie effizienten Zubehör eine ernsthafte Alternative zu deutlich teureren Stereomikrofonen. Die Zwerge sind so gesehen die Größten.

Erschienen in Ausgabe 06/2007

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 2261 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut