Großes Kino
Einen Hauch glorreicher Vergangenheit verströmt die neue Nagra VI. Sie stammt aus einer Dynastie, deren Name zum Filmgeschäft ebenso gehörte wie heute noch der Name Arriflex. In den letzten Jahren von den Digitalboliden verdrängt, will sich die Nagra VI nun ihren Platz am Filmset zurückerobern.
Von Carina Schlage
Bis in die späten Neunziger Jahre hinein war dem Filmschaffenden der Anblick einer Nagra am Set ebenso vertraut wie heutzutage der einer voll digitalen 192-Kanal-Mischpultkonsole in der Postproduktion. Bei der Originaltonaufnahme galten die mobilen Tonband-Recorder aus der Schweiz über Jahrzehnte nicht nur als Standard sondern auch als das Nonplusultra. Noch heute schwärmen Filmtonmeister älterer Semester von der Qualität und Robustheit einer Nagra 4.2, die sie beim Dreh auch in den lebenswidrigsten Gefilden dieses Planeten weit jenseits von menschlichen Wohlfühltemperaturen nie im Stich ließ und – vorausgesetzt, sie hatten genügend Bandmaterial im Gepäck – immer zuverlässig ihren Dienst verrichtete und dabei noch ausgezeichnet klang. Für die Generation junger Filmtonmeister ist der Mobilitätsfaktor der alten Nagra aus heutiger Sicht nicht gerade hoch. Immerhin wiegt sie mitsamt Tasche stolze siebeneinhalb Kilo.
Zur Zeit ihrer Entwicklung 1951 war sie allerdings ein geradezu spektakuläres Novum: Ihrem Schöpfer Stefan Kudelski, war es nämlich gelungen, ein – für damalige Verhältnisse – kleines, leichtes, hoch qualitatives und noch dazu portables Aufnahmegerät zu bauen. Seitdem vollzogen die Nagras in mehreren Generationen (Nagra I-IV, 4.2., E, D) und zahlreichen Varianten (Nagra IV-S, IS, SN-S) ungebremst einen weltweiten Siegeszug durch die Filmindustrie. Die hervorragenden Leistungen der 4.2.-Modelle wurden sogar mit drei Oskars und einem Emmy-Award honoriert.
Was aber bleibt vom glorreichen Ruf der analogen Nagra, wenn diese im heutigen hochdigitalisierten Zeitalter von den modernen Vielkanal-Aufnahmemaschinen à la Sound Devices 722 (Test in Ausgabe 10/2006) beziehungsweise 788 T (Test in Ausgabe 1/2009) oder Aaton Cantar X – die zudem kleiner, leichter und flexibler sind – fast vollständig von den Filmsets verdrängt wurde? Die Antwort lautet ganz klar: die Nagra VI. Denn auch im Hause Kudelski ist man längst im 21. Jahrhundert angekommen und hat das Tonband durch eine 120 GB Festplatte, die analogen Modulometer durch digitale und den Pilotton-Synchronizer durch einen Timecode-Generator ersetzt. Zwar zeichnete bereits die 2002 erschienene Nagra V auf eine interne Festplatte auf, sie konnte sich aber durch ihre recht komplizierte Bedienung kaum gegen die wachsende Konkurrenz durchsetzen.
Ganz anders die Nagra VI, die sich in dieser Ausgabe auf dem Prüfstand befindet: Mit ihr will sich das Unternehmen Kudelski seinen einst angestammten Platz vor dem Bauch des Filmtonmeisters zurückerobern und die 722s und Cantars lehren, was es heißt, einen legendären Namen zu tragen. Letztere bekommen nämlich wieder einen würdigen Mitbewerber, so viel sei schon einmal verraten.
Die Nagra VI ist ein 24 Bit 6-Kanal-Harddisk- und Compact Flash-Recorder, der Samplingraten bis zu 96 Kilohertz unterstützt und neben analogen und digitalen Ein-, und Ausgängen eine Fülle leicht zu bedienender Funktionen bereit hält, die den mobilen Aufnahmealltag erleichtern. In Länge und Breite etwa so groß wie ein Klapprechner und etwa dreimal so hoch, entsprechen ihre Abmessungen denen der Nagra IV. Ihr Gewicht überrascht daher beim ersten Anheben: Mit lediglich 3,8 Kilogramm präsentiert sich der neue Nagra-Sprössling deutlich rücken-, und anwenderfreundlicher als seine schwergewichtigen Vorgänger. Schwergewichtig ist allerdings der Preis: Satte 7.600 Euro inklusive Mehrwertsteuer werden beim Kauf fällig. Zugegebenermaßen eine nicht grade kleine Investition, die sich jedoch für den professionellen Anwender mehr als lohnen dürfte.
„Das ist doch keine Nagra!“, mag der ein oder andere alteingesessene Tonmann beim ersten Blick auf den neuen Recorder mit seinem dezent gebürsteten Aluminiumgehäuse und der „rundfunkgrauen“ Kunststoff-Frontplatte ausrufen. Dass diesem nicht nur optisch durchaus eine Verwandtschaft mit den Urgroß-Modellen innewohnt, wird er erfahrenen Blickes bald darauf feststellen.
Die sehr aufgeräumt wirkende Frontplatte wird von drei Hauptelementen beherrscht. Am auffälligsten ist der so genannte „Main Function Selector“ auf der rechten Seite, ein satt klickender nagra-typischer Drehschalter, mit dem wie zu Zeiten der analogen IV-er Modelle die wichtigsten Funktionen – Power, Aufnahme, Play, Stop und Test – bedient werden. Direkt neben dem Main Function Selector befinden sich vier sehr griffige Potentiometer, deren angenehm schwerer Lauf sehr präzises Pegeln ermöglicht. Die Kanäle fünf und sechs sind nur über Software regelbar. Da diese Pegelsteller nicht mehr traditionell analog sondern als digitale Einstellencoder mit analogem Verhalten konstruiert sind, lassen sie sich im entsprechenden „Potentiometer assignment“-Menü auch als Fader für einen oder mehrere Kanäle definieren – und das nebenbei erwähnt sogar während einer Aufnahme. Über jedem der vier Potis sind drei LEDs angeordnet, die als grobe Aussteuerungsmesser in drei Farben Auskunft über den jeweiligen Pegel geben. Der Schwellwertpegel, ab dem die grünen, gelben und roten LEDs ansprechen, kann dabei ebenso benutzerdefiniert werden, wie der gesamte Anzeigebereich der Aussteuerungsmesser (0 bis -30, -40 oder -50 dB). Eine weitere Status-LED pro Kanal gibt Auskunft über den analogen Limiter.
Das linke Drittel der Frontplatte dominiert das dreieinhalb Zoll große Farbdisplay, das hinter der Kunststoffglas-Abdeckung auch vor gröberer Behandlung geschützt und selbst bei hellstem Frühlingsonnenlicht aus allen Blickwinkeln gut ablesbar ist. Von hier aus hat man nicht nur optischen Zugriff auf sämtliche einstellbare Parameter des Menüs, sondern es gibt auch stets überblickhaft Auskunft über alle momentanen Einstellungen und Betriebszustände – etwa welche der sechs Kanäle aufgenommen werden, bei welchen Eingängen Phantomspannung, Filter oder Limiter eingeschaltet sind oder in welchem Format die Aufnahmen angelegt werden. Das nennen wir vorbildlich gelöst.
Außerdem hat der Anwender jederzeit die sechs hochaufgelösten Aussteuerungsanzeigen im Blick. Die Ballistik dieser Bargraphen entspricht – wie es der Nagra-Profi kennt – der des Modulometers der analogen Maschinen in moderner digitaler Form mit Peak-Hold-Funktion. Die Modulometer sind mit einer Integrationszeit von 7,5 Millisekunden zwar etwas träger als sample-genaue digitale Peakmeter, zeigen auftretende Signalspitzen jedoch ausreichend genau an. Die bereits erwähnte Programmierung des grünen, gelben und roten Anzeigebereichs gilt auch für die Bargraphen.
Flankiert wird das Display von fünf Cursor-, und einer Escape-Taste, die zur Navigation durch das Menü dienen, sowie einer Taste zur stufenlosen Regelung der Displayhelligkeit und drei programmierbaren User-Keys. Mit diesen ist es möglich, auf einen Knopfdruck zu wichtigen Menüpunkten – wie beispielsweise der Input-Matrix, dem Mixer oder dem Projekt-Ordner – zu gelangen. Ein nicht zu unterschätzendes Feature, das ein schnelles Vornehmen von Einstellungen – essentiell für die Arbeit am Set – ungemein fördert, da man sich für die Wahl des Projektordners beispielsweise nicht erst durch sämtliche Untergruppen-Menüs graben muss. Einen Hauch von Analoggefühl verströmen die zahlreichen um die Potis und den Main Function Selector herum angeordneten Kippschalter. Deren vintagehaftes Klicken vernehmen wir im Laufe des Testes – auch bei ausgeschalteter Nagra – immer wieder gern, vermitteln sie doch das Gefühl echter Hardwarebedienung. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Nagra-Entwickler eben auch heute noch wissen, worauf es im harten Drehalltag ankommt. Ob Referenztongenerator oder internes Slate- (= Talkback-) Mikrofon: Alles Wesentliche befindet sich im direkten Zugriff auf der Frontplatte. Und welcher digitale Festplattenrecorder kann schon von sich behaupten, über eine kippschalter-gesteuerte Monitoring-Matrix zu verfügen? Die Nagra VI kann es. Mit den zwölf kleinen Schaltern oberhalb des Main Function Selectors und des Kopfhörerreglers kann jeder der sechs Aufnahmekanäle an-, aus-, oder stumm geschaltet sowie deren Panoramaposition – links, Mitte oder rechts – ausgewählt werden. Je nach Menü-Auswahl wirkt sich diese hinterband-geschaltete Kreuzschiene nur auf die beiden Kopfhörerausgänge und den eingebauten Lautsprecher auf der Oberseite des Gehäuses aus, kann aber auch parallel die analogen beziehungsweise digitalen Ausgänge speisen. Ein besonderes, sehr nützliches Detail verbirgt sich im recht schwerläufigen Kopfhörerregler: Hält man diesen gedrückt, werden alle Signale mono wiedergeben. Einfacher lässt sich die auch heute immer noch relevante Monokompatibilität nicht überprüfen.
Alle Eingänge befinden sich in Form von symmetrischen XLR-Anschlüssen auf der linken Gehäuseseite. Die ersten vier können mit Phantomspannung gespeist werden und prädestinieren sich für Mikrofonsignale, wohingegen Eingang fünf und sechs für Line-, oder digitale Signale im AES-3-Format gedacht sind. Über den 5-Pin-Lemo-Anschluss kann die Nagra Timecode empfangen oder senden. Überdies besteht die Möglichkeit, externe Sender von Drahtlossystemen über den Recorder mit Strom (12V DC, maximal 500 mA) zu versorgen. Hierfür dienen die beiden 4-Pol-Hirose Buchsen.
In der Input-Matrix des Menüs lassen sich die Vorverstärker der Eingänge eins bis vier zwischen „Dynamisch“ und „Kondensator“ umschalten. Wer jetzt lediglich eine einfache software-gesteuerte Pegelanpassung für dynamische und elektro-statische Mikrofone vermutet, der irrt gewaltig. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine sehr ungewöhnliche „Hybrid-Technologie“: Wählt man nämlich „Dynamisch“, so wird pro Eingang ein Eingangsübertrager aktiviert, der nicht nur – ausweislich unserer Messungen – die Empfindlichkeit des Eingangs um knapp 10 Dezibel und den Geräuschspannungsabstand erhöht, sondern auch schaltungstechnisch bedingt eine vollständige galvanische Entkopplung des dynamischen Mikrofons bewirkt.
Was die bereits erwähnte Input-Matrix betrifft, so wählt der Anwender hier für jeden der sechs Inputs die Signalquelle aus: Line-Signale können auf allen sechs Kanälen anliegen. Anders als bei den Mobilrecorder-Mitbewerbern wie den Geräten von Sound Devices ist das Routing der Nagra-Eingänge auf die jeweiligen aufzuzeichnenden Tracks nicht sonderlich flexibel: Lediglich die digitalen AES-Eingänge können auf beliebige Tracks geroutet werden, für die Mikrofonsignale gilt: Inputzahl entspricht Tracknummer. Außerdem gilt es zu überdenken, dass bei Benutzung beider Digitaleingänge – die insgesamt vier Kanäle bieten – nur noch zwei analoge zur Verfügung stehen. Die Nagra kann also die analogen Eingänge nur vollständig zu sechst nutzen, wenn keine digitalen Quellen verwendet werden.
Die Inputs fünf und sechs können desweiteren für einen internen Mixdown genutzt werden. Dies wiederum auch nur, wenn selbige eingangsseitig nicht für Line- oder Digitalquellen gebraucht werden, was unserer Meinung nach etwas flexibler hätte gelöst werden können.
In der Input-Matrix geschieht überdies die Auswahl über Phantomspannung, Limiter, Filter und 180°-Phasendrehung. Die Limiter und Filter sind – ebenfalls nicht ganz alltäglich – vollständig analog und haben deshalb feste Größen, die nicht variiert werden können. Das Filter ist zudem vor dem Vorverstärker geschaltet, was den Vorteil bietet, das eventuelle Windgeräusche eliminiert werden, bevor sie selbigen übersteuern können. Welche Kanäle überhaupt auf der Aufnahme landen, muss ebenfalls in der Input-Matrix ausgewählt werden. Diese ist im Übrigen so wunderbar einfach aufgebaut, dass sich ihre Funktionsweise quasi von selbst erklärt. So muss das sein.
Die Nagra VI bietet einen analogen Stereo- sowie einen digitalen Ausgang, deren symmetrische XLR-Anschlüsse auf der rechten Seite untergebracht sind. Dies stellt zugegebenermaßen besonders im Angesicht der konkurrierenden Recorder nicht gerade eine luxuriöse Ausstattung dar, reicht realistisch betrachtet für kleine bis mittelgroße Produktionen in den meisten Fällen allerdings aus. Zumal zum einen Tonmeister und Assistent mit den beiden Kopfhörerausgängen – der zweite befindet sich als 6,3 mm-Klinke ebenfalls auf der rechten Gehäuseseite – schon mal bestens bedient werden und zum anderen auf der 9-Pol-Sub „D“-Buchse zwei weitere digitale Ausgänge aufliegen, sollten sie zusätzlich benötigt werden.
Welche Signale durch die Ausgänge fließen, bestimmt der „Line/AES out“- Menüeintrag. Hier stehen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl: Die Kanäle können entweder in Stereo-Gruppen direkt ausgegeben werden, die Monitoring-Matrix kann parallel anliegen oder man verwendet die separate Output-Matrix, die bestimmt, welche Kanäle auf den linken und rechten Ausgang geroutet werden. Doch damit nicht genug, auch der Ausgang des internen Mixers kann die Hardware-Outputs speisen. So ist es beispielsweise möglich, von vier Mikrofonsignalen (zwei Angeln und zwei Anstecker) auf Kanal fünf und sechs einen Mix zu erstellen und diesen dann über die analogen oder digitalen Ausgänge an die Videoeinheit am Set zu senden, während der Set-Tonmeister selbst seinen eigenen Mix über die Monitoring-Matrix hört. Der Mix kann natürlich auch aufgezeichnet werden, sofern die Kanäle fünf und sechs nicht anderweitig genutzt werden.
Die beiden USB-Schnittstellen (Typ „A“ und „B“) dienen zum Datentransfer mit einem Rechner beziehungsweise zum Anschluss von USB-Geräten – wie Sticks, DVD-Brennern, Festplatten – oder einer handelsüblichen Tastatur, mit der Datenmodifikationen einfacher vonstatten gehen. Um den Speichermedien-Reigen zu komplettieren, steht außerdem ein Slot für die mitgelieferte 4 Gigabyte Compact-Flash-Karte zur Verfügung. Diese kann nebenbei erwähnt im laufenden Betrieb der Nagra eingesteckt oder entfernt werden – natürlich sollte man dies vermeiden, wenn gerade von CF-Karte wiedergegeben oder auf sie aufgenommen wird.
Was uns zum nächsten Punkt führt: Entgegen der Methode der Sound Devices-Maschinen kann die Nagra VI nur auf ein Medium gleichzeitig aufnehmen: auf die interne 120 GB-Festplatte, die Compact-Flash-Karte oder ein an den USB-Port angeschlossenes äquivalentes Medium. Dies ist jedoch kein Totschlag-Argument zugunsten der amerikanischen Recorder, denn die Schweizer Diva beherbergt dafür ein sehr mächtiges Feature: die so genannte Autocopy-Funktion. Sie kopiert anfallende Daten noch während der Aufnahme auf ein ausgewähltes Medium, zum Beispiel auf die Compact-Flash-Karte. Einmal aktiviert, arbeitet dieser Prozess im Hintergrund und bedarf keines weiteren Eingriffs durch den Benutzer. Auch einzelne Tracks – zum Beispiel nur der Mixdown von Kanal fünf und sechs – können übertragen werden. Die Datei-, und Ordnerstruktur des primären Mediums – „Working Drive“ genannt – wird dabei übernommen. Selbst wenn nachträglich Meta-Daten editiert werden – denn auch das ist direkt in der Nagra möglich – übernimmt die Autocopy-Funktion diese Änderungen auf der Kopie. Die „Copy List“ – eine Art Taskmanager – gibt dabei einen Überblick auf alle anstehenden Kopiervorgänge. Dem Kopiermanagement gebührt großes Lob, denn er funktioniert als gut durchdachter automatischer Back-up-Prozess während unseres Tests tadellos und lässt den Testern die Konzentration auf das Wesentliche – die perfekte Aufnahme –, im vollen Vertrauen, dass am Ende des Tages alle Aufnahmen auf beiden Medien bereit stehen.
Der Umgang mit der Ordner-, und Dateistruktur der Nagra ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, jedoch nicht sonderlich schwer zu verstehen: Auf dem primären Aufnahmemedium wird ein Ordner, der so genannte „Working Folder“, definiert, in dem alle Aufnahmen abgelegt und wiedergegeben werden. Unter dem Menü-Eintrag „Directory“ können alle aufgenommenen Daten des jeweiligen Working Folders eingesehen, abgespielt, umbenannt oder gelöscht werden. Aber eben nur diese. Alle anderen Daten – auch von einem PC aus übertragene Audiodateien – ignoriert der Recorder, wenn sie nicht nach einer bestimmten nagra-eigenen Namensstruktur benannt sind. Das empfinden wir trotz der hohen Bedienergonomie als kleinen Wermutstropfen. Denn dadurch erledigt sich weitestgehend die Möglichkeit, nicht mit der Nagra erstellte Audiofiles – wie den Lieblingssong des Set-Tonmeisters für die Zwischendurchunterhaltung in den Drehpausen – abspielen zu können. Auch das schnelle Hin- und Herspringen zwischen Aufnahmen in verschiedenen Ordnern oder das Erstellen von Unterordnern ist nicht möglich. Welch hoher Bedienkomfort in mobilen Aufnahmegeräten umsetzbar ist, zeigen die Sound Devices-Recorder, die mit ihrer computerhaften Ordnerstruktur dahingehend immer noch deutlich flexibler sind.
Sehr vorbildlich gelöst haben die Entwickler dagegen die Implementierung von Meta-Daten. In einem eigenen Menüpunkt werden Projekt, Szenennamen und bei Bedarf sogar Bezeichnungen für die einzelnen Tracks eingetragen und in den Audiodaten abgespeichert. Je nach ausgewählter Namensstruktur werden auch die Dateien nach den Einträgen im Meta-Daten-Menü benannt. Die Meta-Daten sind dabei konform zum ixml-Standard . Von hohem Nutzen erweist sich der „False Start“-Index. Ein Beispiel: Der Schauspieler patzt oder die Tonassistentin stößt mit der Angel gegen eine lichtabsorbierende Fahne; diese kippt unter lautem Getöse mitten ins Bild (soll ja vorkommen) – kurz: der Take muss abgebrochen und erneut gestartet werden. Der Tonmeister hält dann bei Aufnahmebeginn einfach die „Skip Backwards“-Taste auf der Frontplatte der Nagra gedrückt und schon erhält der vorher abgebrochene Take den Index „-F“ und kann vom Bild-, und Toncutter schnell als solcher identifiziert werden. Ebenso nützlich sind die Indizes für „Pick-up“ (also Teilaufnahmen einer Szene) oder „Wild Track“ (zum Beispiel „Nur-Töne“), mit dem jede Aufnahme markiert werden kann.
Die „Pre-Record“-Funktion darf in einem amtlichen Mobilrekorder natürlich auch nicht fehlen. Bis zu zwanzig Sekunden „Cache“ stellt die Nagra bereit (bei 96 kHz Samplingrate sind es nur zehn Sekunden), so dass ein eventuell verpasster Dialoganfang noch auf der Aufnahme landet. Damit der Cache aktiv wird, muss sich der Recorder im „Test“-Modus befinden. Diesen kennt der Nagra-Erfahrene schon von den alten Analogmaschinen: Er dient als eine Art „Standby vor der Aufnahme“- Betriebszustand und erlaubt Pegeln der Ein-, und Ausgänge sowie das Routing in In-, und Output-Matrix.
Selbstverständlich beherrscht die Nagra VI sämtliche Time-Code Modi, kann als Master einen eignen Time-Code ausgeben oder sich zu einem anliegenden synchronisieren. Auch hierbei hat man keinen Aufwand gescheut und dem Recorder einen künstlich gealterten Stratum III TCXO-Kristall spendiert, der laut Kudelski mindestens 15 Jahre lang für einen stabilen Time-Code sorgt.
Weitere nützliche Funktionen sind die beiden MS-Decoder, die in den Kopfhörerweg eingeschleift werden können sowie die „Microphone Display Scale Selection“. Sofern bekannt, kann über diesen Menüpunkt die Empfindlichkeit des angeschlossenen Mikrofons angegeben werden, was sich auf die Levelanzeige bei Justierung des Potis auswirkt. Diese wird auf dem Display in dbSPL angegeben und kann als Übertragung der Mikrofonempfindlichkeit in einen korrespondierenden Schalldruckpegelwert verstanden werden. Alle vorgenommenen Einstellungen an der Nagra kann der Anwender in sechs so genannten Templates speichern und jederzeit wieder abrufen. So spart er wertvolle Zeit und Einstellarbeit.
Während des Tests vermag die Nagra die Redakteure zu wahren Liebeserklärungen hinzureißen. Wenn auch bei der Atmosphären-Aufnahme auf dem Marktplatz des Redaktionsstandorts nicht ganz so unauffällig wie ein Sound Devices-Recorder („Nehmen Sie das jetzt auf?“), ließ sie doch mit ihrem wunderbar einfachen Bedienkonzept kaum Wünsche offen. Fehlbedienungen kamen so gut wie nicht vor, ebenso wenig wie Abstürze oder Aufhänger. Wirklich schade – aber verschmerzbar – ist nur, dass das Dateimanagement nicht noch flexibler und globaler vonstatten geht, was sicherlich nur eine reine Gewöhnungssache ist. Spätestens beim Anhören der Aufnahmen muss auch der letzte Zweifler in der Redaktion die Skepsis an der neuen Nagra herunterschlucken und zugeben, dass die Verwandtschaft zu den Legenden der Analog-Ära mehr als offensichtlich ist.
Die Vorverstärker klingen fantastisch, wenn auch nicht so nüchtern wie unsere Referenz, der Lake People F355. Die Signale erfahren eine minimale Präsenzanhebung im Bereich um sechs Kilohertz, was sie angenehm luftig erscheinen lässt. Der Mitten-, und Bassbereich ertönt kraftvoll und souverän. Zweifellos hätten die Entwickler auch völlig neutral klingende Vorverstärker konstruieren können, da aber eben das Sounddesign oft schon beim Originalton beginnt, verwundert der satte Klang der Aufnahmen nicht. Stimmen, Akustik-Gitarre und Außenatmosphären werden feinst aufgelöst und begeistern durch ihre atemberaubende Räumlichkeit. Der Limiter darf nicht als Brickwallbegrenzer verstanden werden. Er greift bei -7,6 dBFs sehr sanft ein. Bei gelegentlichem Aufleuchten der zugehörigen LED ist sein Einsatz nicht zu hören.
Auch die Messergebnisse geben keinen Anlass zur Klage, im Gegenteil: bei einer Nagra weiß man eben auch im Digitalzeitalter noch, was man hat. Der gemessene Frequenzgang visualisiert wider Erwarten die gehörte minimale Präsenzanhebung zwischen drei und zehn Kilohertz. Im FFT-Spektrum liegt die zweite Harmonische mit -82 Dezibel im nicht hörbaren Bereich. Der Geräuschspannungsabstand der Mikrofoneingänge ist mit 79,3 Dezibel zwar nicht überragend, jedoch in einem sehr guten Bereich. Ebenso der Gesamtklirrfaktor, der souverän 0,02 Prozent beträgt und erst zu hohen Frequenzen hin auf unkritische 0,03 Prozent ansteigt. Die Gleichtaktunterdrückung erfolgt mit unter -70 Dezibel im relevanten Bereich gleichfalls vorbildlich wie pflichtenhefterfüllend. Über jeden Zweifel erhaben sind die Messwerte für die Übersprechdämpfung (besser als 75 Dezibel) und die Wandlerlinearität, die mit einem linearen Verlauf bis -110 Dezibel an der Grenze des Machbaren liegen.
Fazit
Eines ist sicher: Die Nagra ist zurück und hat echte Chancen als digitale Reinkarnation mit analogem Bediengefühl zu den Filmsets dieser Welt zurückkehren. Auch wenn äußerlich nicht mehr ganz soviel klassische Nagra sichtbar ist, so wurde während des Test schnell klar, wie viel geballte Nagra in dem Schweizer Recorder drinsteckt. Jahrzehntelange Erfahrung auf dem Filmtonsektor, hervorragende Klangqualität, modernste Digitaltechnik und hoher Bedienkomfort machen die Nagra VI zu einer echten Empfehlung für alle Filmtonmeister und Mobilrecordisten. Das Testexemplar wird die Professional audio-Redaktion jedenfalls nur schweren Herzens wieder hergeben.
Erschienen in Ausgabe 06/2009
Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 7600 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: gut
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