Größe ist eben doch Alles

Native Instruments hat ohne Zweifel ein Faible für das Besondere und Exotische. Mit der Sample Library The Giant präsentiert das Unternehmen die Klänge des größten Pianos der Welt, das mit einem ganz und gar eigenständigen Sound fortan in jeder DAW für Furore sorgen will. Obs klappt, steht im Test.

Von Georg Berger

Als mir Native Instruments Produkt-Manager Johannes Krämer auf der diesjährigen Musikmesse von einer demnächst erscheinenden Piano-Library kündete, die den Sound des größten Pianos der Welt reproduziert und ich daraufhin wie aus der Pistole geschossen auf das Klavins Piano Modell 370 schloss, zeigte er sich höchst beeindruckt. Anfang der 1990er Jahre konnte ich dieses im Guinness Buch der Weltrekorde als tatsächlich größtes Klavier der Welt verzeichnete Instrument selbst in Augen- und Ohrenschein nehmen (Näheres dazu im Kasten auf Seite 46). Die beeindruckenden Impressionen kamen mir mitsamt des eigentümlich offenen und mächtigen Klangs daraufhin automatisch wieder ins Gedächtnis. Ein Test der letztlich auf den bezeichnenden Namen „The Giant“ getauften Library war damit, nicht zuletzt auch aus ganz eigenem Interesse, beschlossene Sache. Für die Produktion der Library zeichnete Uli Baronowsky verantwortlich, der seines Zeichens Produzent der Galaxy-Piano-Librarys ist und seine Expertise bei der Produktion von Librarys dieser Art in vollem Umfang eingesetzt hat (siehe Kasten auf Seite 47). The Giant ist sehr günstig für rund 100 Euro erhältlich. Die Library setzt auf Kontakt 5 respektive der kostenlos erhältlichen Player-Variante auf.

Die Samples liegen in 24 Bit und 44,1 Kilohertz vor. Jede Note verfügt über 13 Velocity-Zonen, um ein authentisch dynamisches Spiel zu gewährleisten. Das Verklingen der Töne wird mit Hilfe von Release-Samples realisiert, die automatisch beim Loslassen der Taste eingeblendet werden. In The Giant stehen dafür pro Note fünf Release-Samples – Stichwort Round Robin – zur Auswahl die mit bis zu satten 20 Sekunden Dauer weich ausklingen. Insgesamt rund 4,5 Gigabyte Festplattenspeicher sind für die Installation der Library erforderlich, wobei lediglich zwei Kontakt-Instrumente zum Laden zur Auswahl stehen, die jedoch unterschiedlicher nicht sein können. Das in hellen Farben gehaltene GUI der sogenannten Day-Version erlaubt erwartungsgemäß das tonale und melodiöse Spielen der Piano-Sounds. Die dunklere Night-Version hält eine Reihe höchst ungewöhnlicher Klänge vor, die zwar sämtlich vom Klavins Piano stammen, aber mit einem Klavierklang wenig bis überhaupt nichts gemeinsam haben. So lassen sich Soundbestandteile wie unter anderem die Obertöne, die Release-Samples oder das Resonieren der Klaviersaiten als isolierte, eigenständige Klänge spielen. Als Sahnehäubchen findet sich zudem eine Vielzahl an Geräusch-Samples, wobei das Klavins Piano auf unterschiedlichste Art mit Händen, Füßen und diversen Gegenständen traktiert wurde. Insgesamt offeriert die Night-Variante – auch Cinematic Instrument genannt – damit einen reich gedeckten Tisch für Klangexperimente, Sounddesign, Post Production und Filmmusik. Mit Hilfe der integrierten FX-Convolution potenzieren sich die Gestaltungsmöglichkeiten dabei um ein Vielfaches. Aber eins nach dem anderen. Schauen wir uns zunächst das Day-Instrument etwas näher an.

Das GUI der Day-Variante setzt sich aus vier Blöcken zusammen. Oben rechts können Presets ausgewählt, geladen und gespeichert werden. Darunter findet sich eine Sektion mit einem überschaubar einstellbaren Faltungshall. Beide Sektionen sind übrigens auch im Cinematic-Instrument vorhanden. Ans Eingemachte gehts in der Tone- und Anatomy-Sektion, die im GUI mit Makro-Parametern bestückt sind. Durch Druck auf die Pfeilsymbole blendet sich ein Dialog mit zusätzlichen Einstellmöglichkeiten ein. Die Tone-Sektion erlaubt dabei primär Einfluss auf den Klang der Samples zu nehmen. Außer einem Equalizer und Kompressor sorgt der Low-Key-Dialog für ein Ausbalancieren der Lautstärke zwischen den tiefen und hohen Tönen. Wem etwa die Bass-Töne im Vergleich zum Diskant zu laut sind, kann dies entsprechend dämpfen. Hinter dem XXL-Parameter verbirgt sich der Transient-Master von Native Instruments, der wirkungsvoll Einfluss auf das Attack und Release der Samples nimmt und je nach Einstellung die Sounds deutlich voluminöser, mächtiger und plastischer ausformt. Die Anatomy-Sektion erlaubt Eingriffe in das Spielverhalten des Day-Instruments. Per Slider und Buttons lassen sich zudem Nebengeräusche wie unter anderem  das Absetzen der Dämpfer, das Treten des Pedals oder das Geräusch der Tastatur-Mechanik beim Spiel aktivieren und in der Lautstärke regulieren, so dass sich bei Bedarf mehr lebendige Authentizität hinzufügen lässt. Sehr schön ist die Möglichkeit, die Lautstärke der Release-Samples und von Obertönen einzustellen, die je nach Spiel zu laut oder leise sein können. Die Obertöne sorgen dabei auf subtile Weise für einen volleren und runderen Sound.
Eher unspektakulär finden sich noch weitere Parameter, die Zugriff auf die Stereobreite, die Stimmung und die Velocity nehmen. Mit den wählbaren Funktionen Silent Key, Repedaling und Half Pedal finden sich schließlich noch weitere Optionen, um das originale Spielgefühl eines Flügels zu reproduzieren. Alles in allem findet sich damit eine große Bandbreite an einstellbaren Funktionen, um rasch in den Klang und das Spielverhalten der Samples einzugreifen.

Das Cinematic-Instrument offeriert hingegen einen völlig anderen Satz an Parametern, die primär in Richtung Sounddesign gehen. Anstelle des Tone- und Anatomy-Blocks finden sich jetzt die Sektionen Sources und Convolution. Über Buttons lassen sich in der Sources-Sektion die bereits erwähnten, isoliert spielbaren Teilsound-Fragmente aktivieren. Dies ist sogar additiv möglich, so dass auch Mischformen, etwa aus den Oberton-Samples und den gezupften Klaviersaiten realisierbar sind. Der Convolution-Block ist nichts anderes als ein weiterer Faltungs-Prozessor. Unterschied: Anstelle von Impulsantworten, die Rauminformationen tragen, findet sich in dieser Sektion eine Vielzahl an generierten Resonanz-Samples, die vom Klavins-Instrument stammen. Das Repertoire wird mit weiteren Klängen von Instrumenten, Geräuschen, rückwärts gespielten Klängen und sogar rhythmischen Loops angereichert. Über 150 dieser Effekt-Impulsantworten finden sich im Lieferumfang, die sich mit den Sounds des Cinematic-Instruments per Faltung verschmelzen lassen und von dem einst akustischen Charakter der Samples nicht mehr allzu viel übrig lassen. Insgeheim markiert der Convolution-Block dabei das Highlight des Cinematic-Instruments. Per Vier-Band-EQ, Passfilter und Limiter lässt sich überdies in den Klang der Effekt-Impulsantworten noch eingreifen. Der erweiterte Source-Dialog offeriert hingegen die Möglichkeit, die per Button wählbaren Spezialsounds per Fader in der Lautstärke zu regulieren. Zusätzlich erlaubt ein Hoch- und Tiefpassfilter sowie eine ADSR-Hüllkurve weiter in den Klang einzugreifen. Insgesamt mögen die Eingriffsmöglichkeiten ins Cinematic-Instrument eher banal und unspektakulär ausfallen. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen.

m Hör- und Praxistest stelle ich zunächst die Day-Variante auf die Probe und bin begeistert. Was ich höre deckt sich hundertprozentig mit meinen damals gewonnenen Eindrücken. Der Sound ist eigentümlich offen, dermaßen transparent und von einer schimmernden Luftigkeit durchsetzt, die wirkt, als ob sämtliche Sounds durch ein aufwändiges Signal-Processing gegangen sind, was aber nicht der Fall ist. Die Bässe kommen mit einer stählernen Präzision und Klarheit, sie drängen mächtig in den Vordergrund, ohne dabei das Gesamtklangbild zu verwaschen. Das ist exakt der vielgerühmte larger-than-life-Sound, auf dessen Suche so manch einer ist, um seinen Piano-Part mit einem entsprechend expressiv-dramatischen Aufmerksamkeits-Effekt zu versehen. Im Vergleich dazu klingen die Concert Grand Librarys von Native Instruments eher schmächtig und schlank und das obwohl es sich um reinrassige Konzert-Flügel handelt.
Durch geschicktes Einstellen der Tone-Parameter im Day-Instrument stelle ich jedoch rasch einen klanglichen Gleichstand her und verleihe dem Giant-Sound mehr Zartheit und Intimität. Dennoch klingen die Bässe der Day-Variante immer noch präziser. Doch das ist ja erst der Anfang. Mit Hilfe des XXL-Parameters lässt sich die Mächtigkeit des Grundklangs sogar noch erweitern. Je weiter ich den Regler aufdrehe desto impulsstärker und vordergründiger klingt es. Das macht schnell süchtig und sollte mit Bedacht eingesetzt werden. Gleiches gilt auch für die Low-Key-Funktion bei der es nur zu verführerisch ist,  zuviel der mächtigen und sehr gut klingenden Bässe anzuheben. Ein weiteres Highlight sind die regulierbaren Release-Samples, die nicht nur höchst authentisch das Verklingen der Töne wiedergeben. Zusätzlich sorgen sie je nach Einstellung für eine beeindruckend klingende Räumlichkeit. Den integrierten Faltungshall hätte sich Native Instruments da auch durchaus schenken können. Die Räumlichkeit der Samples spricht alleine schon für sich. Das Cinematic-Instrument schießt im Test schließlich den Vogel ab und zeigt anschaulich, was sich an Sounds jenseits der Erwartungshaltung an ein Klavier herausholen kann. Sicherlich, das Zupfen und Streichen über die Klaviersaiten ist ein alter Trick und wurde schon oft praktiziert. Doch das melodiöse Spielen dieser Teilfragmente ist schon eigentümlich. So klingen die Obertonsamples  eigenartig hohl, die Resonanz-, Release- und Plucked-Varianten kommen auf ihre eigene Art dominant perkussiv daher, was mal entfernt an ein Banjo, ein anderes Mal an eine Koto erinnert. Beim Test der Noise-Samples dringen hingegen diverse dumpf und spitz klingende Perkussions- und Geräuschklänge aus den Lautsprechern, die durch Schläge auf das Instrument erzeugt werden, versetzt mit dem Nachklingen der Saiten, auf denen teils verschiedene Gegenstände liegend mitschnarren. Weitere Sounds bestechen durch das Anregen der Saiten mit verschiedenen Gegenständen und den Händen, wobei mitunter Glissando-artige Spektren zu hören sind. Im Test entdecke ich mich, wie ich mit dem gebotenen Repertoire auf einmal einen Drum-Groove entwickle, der herrlich mächtig nach Industrial klingt. Viele der Sounds erinnern dabei unweigerlich an den Klangkörper der Einstürzenden Neubauten. Doch das Beste kommt zum Schluss: Das Aufprägen der Effekt-Impulsantworten auf die Original-Samples. Je nach Auswahl und Kombination von Quelle und Impulsantwort bleibt vom ursprünglichen Klang nicht mehr viel übrig und Spektren sind hörbar, die mehr an Synthesizer als an ein akustisches Instrument erinnern. Bei Anwahl der Resonanz-Impulsantworten erhalten die Source-Klänge eine fremdartig klingende Räumlichkeit. Richtig abgedreht wirds bei den Samples in der Reversed- und Timed-Kategorie, die den Klavins-Samples einen Rückwärts-Effekt sowie eine rhythmische Komponente aufprägen. Für Sounddesigner bietet sich mit der Effekt-Convolution jedenfalls eine riesige Spielwiese zum Experimentieren, bei der The Giant bestimmt nicht so leicht die Luft ausgeht. 

David Klavins und das Klavins Piano Modell 370

 


Auch wenn es eine Binsen-Weisheit ist, aber Fortschritt und Entwicklung entsteht immer aus Unzufriedenheit. Der deutsch-lettische Klavierbaumeister David Klavins, der sich über Jahre hinweg in seinem eigenen Betrieb, dem Klavierhaus Klavins in Bonn-Beuel, in der Restaurierung von Konzertflügeln betätigte, hinterfragte Mitte der 1980er Jahre das seit über 100 Jahren tradierte Bauprinzip dieser Instrumente. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Bauweise von Konzertflügeln nach heutigem Stand der Technik, aber auch der zur Verfügung stehenden Materialien konstruktionsbedingte und klangliche Schwächen aufweisen. Ausgehend von diesen Ergebnissen machte er sich Gedanken, wie ein moderner Konzertflügel sowohl in der Bauart und primär auch in der Klangqualität verbessert werden könnte. Das Ergebnis seiner Überlegungen präsentierte er schließlich im Oktober 1987 der Öffentlichkeit in Form des Klavins Piano Modell 370. Die Entwicklung und Konstruktion des Instruments nahm dabei insgesamt drei Jahre in Anspruch, eine Zeit, in der Klavins aufgrund fehlender historischer Vorbilder für seinen Ansatz immer wieder klavierbautechnische Probleme lösen musste. Das Modell 370 ist dabei als Standklavier ausgeführt, das mit einer Bauhöhe von 3,70 Meter über zwei Stockwerke geht. Um an die Tastatur zu gelangen, muss der Instrumentalist dabei über eine ins Instrument integrierte Treppe in den ersten Stock gehen. Die weiteren technischen Daten dieses im wahren Sinne des Wortes raumgreifenden Instruments lesen sich ebenso eindrucksvoll. Der Resonanzboden des Pianos ist doppelt so groß wie der eines Konzertflügel mit einer Länge von 2,75 Metern. Das Gesamtgewicht beträgt satte zwei Tonnen und die längste Bass-Saite weist mit 3,03 Metern eine knapp dreifach größere Länge als bei einem herkömmlichen Standklavier auf. Diese Saiten stellte Klavins nach Umbau seiner Saitenspinnmaschine übrigens selbst her. Klavins erntete für seine Konstruktion durchweg positive Resonanzen, sowohl von Seiten des Klavierbaus und mehr noch von Instrumentalisten-Seite. Allerdings schwangen dabei auch immer wieder Bedenken mit, die sich auf die Praktikabilität etwa bei der Aufstellung oder dem Transport bezogen sowie der Akzeptanz des Klangbilds, das sich logischerweise gegen Jahrhunderte alte Hörgewohnheiten behaupten muss. Im Laufe der Jahre fand schließlich eine Reihe von Konzerten mit dem Modell 370 im Bonner Klavierhaus statt und es wurde auch eine Reihe von CDs veröffentlicht, auf denen das Klavins Piano zu hören war. Selbst Im Lokalfernsehen des WDR wurde das Riesenklavier in den 1990er Jahren ebenfalls einmal vorgestellt. Dennoch blieb das Modell 370 ein Unikat. Ungeachtet dessen hat David Klavins an seiner Entwicklung weiter festgehalten und sogar noch weiterentwickelt. Mit dem Modell 370i offeriert er auf seiner Internet-Präsenz (www.klavins-pianos.de) eine Variante seines Erstlings, wobei das „i“ für integriert steht. Anders als die freistehende Urfassung wird das i-Modell fest in ein Gebäude eingebaut. Vorteil: Durch den Einbau in eine Wand oder etwa zwischen zwei Stahlträgern nimmt es weniger Platz ein. Durch das feste Verankern mit der Bausubstanz kann sich der Resonanzboden nicht verziehen und es kommt zu keinerlei unerwünschten Schwingungen des Resonanzboden-Rahmens. Kaufinteressierte müssen mit Kosten ab 260.000 Euro rechnen, die sich je nach Sonderwünschen noch entsprechend ändern können. Auf Nachfrage teilt uns David Klavins mit, dass zurzeit Entwürfe für zwei Herstellungen angefertigt werden. Ein Modell soll in eine Kirche eingebaut werden, das andere in eine von Klavins selbst geplanten Konzertsaal in Balingen. Klavins gibt gleichzeitig auch noch zu Protokoll, dass diese Instrumente sogar mit einer Bauhöhe von 4,50 Meter konzipiert sind. Analysen des 370er Modells ergaben dabei, dass einige der klanglichen Parameter durch diese Bauhöhe sogar nochmals verbessert werden können.

Fazit

Was soll man da noch großartig zu The Giant, Native Instruments jüngster Piano-Library sagen? Gigantischer Sound mit gigantischen Eingriffsmöglichkeiten zum gigantisch exzellenten Preis-Leistungs-Verhältnis kann nur das Urteil lauten. Wer stets auf der Suche nach dem Besonderen ist oder immer noch im Studio versucht, mit Effekten den knalligen Pop-Piano-Sound zu erzeugen, für den ist The Giant ein unbedingtes Muss.

Erschienen in Ausgabe 08/2012

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 99 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut