Vom Tuten und Blasen

Orchestral Tools ergänzt seine Berlin-Series, eine Kollektion von Orchester-Samples der höchsten Qualitätsstufe, um die  Blechbläser-Libary Berlin Brass, bestehend aus erfreulich variabel spielbaren Trompeten-, Posaunen-, Hörner- und Tuba-Klängen.

Von Sylvie Frei

 

Die Geschichte der Berlin Series begann Ende 2013 mit den Aufnahmen zur Streicher-Library Berlin Strings in den für Film- und Scoringaufnahmen berühmten Berliner Teldex-Studios. Damals begleitete unser freier Autor Henning Hellfeld die aufwendigen Aufnahmen und berichtete darüber in seiner Reportage in der Professional audio 1/2014. Etwas später, in Ausgabe 5/2014, folgte der Test, aus dem die hochklassige Streicher-Sample-Kollektion mit dem Gesamtergebnis „Spitzenklasse sehr gut“ hervorging und sich damit in die Liste der großen, professionellen Scoring-Librarys katapultierte. Mit dafür verantwortlich war die extrem variable Spielbarkeit der Library inklusive des sogenannten „True Adaptive Legatos“. Seitdem ist viel geschehen – die Serie wurde um die Holzbläser-Kollektion Berlin Woodwinds, die Schlagwerk-Library Berlin Percussion sowie diverse Expansion-Packs für alle bis dahin veröffentlichte Sektionen erweitert, die allesamt über ähnliche spielerische Finessen verfügen wie die Berlin Strings.

Nun lässt sich die Serie mit der erst kürzlich erschienen Blechbläser-Library Berlin Brass endlich zu einem vollständigen klassischen Orchester kombinieren. Die Library beinhaltet so ziemlich alle denkbaren Artikulationen von jeweils vier individuellen Hörnern, drei Trompeten, zwei Posaunen, einer Bassposaune sowie einer Tuba an. Hinzu kommen außerdem ein Horn-, ein Trompeten und ein Posaunen-Ensemble, die gleichermaßen vielseitig aufspielen sollen.

Wie alle Orchestral Tools-Librarys wurde auch Berlin Brass in den Berliner Teldex-Studios mit höchstem Aufwand aufgenommen und für Native Instruments Kontakt, beziehungsweise den kostenfreien Kontakt-Player, konzipiert. Für noch mehr Eingriff in die Artikulation, den Klangverlauf der Töne und die Anpassung der Mikrofonierung setzt Orchestral Tools einmal mehr auf seinen nahtlos in Kontakt integrierten Capsule-Player.

Insgesamt kommt die Library mit einer extrem stattlichen Datenmenge von 320 Gigabyte Sample-Material mit einer Auflösung von 48 Kilohertz bei 24 Bit daher. Dieses verteilt sich auf insgesamt 430 einzelne .nki-Instrumente, die in 14 Multi Articulations, 274 Single Articulations und 142 TM Patches unterteilt sind. Das Samplepaket kostet nicht ganz unerhebliche 799 Euro. Es ist als reines Download-Produkt erhältlich – sodass es notwendig ist, gepackte 185 Gigabyte aus dem Internet herunterzuladen, bevor der geneigte Komponist mit der Installation und Nutzung des Produkts beginnen kann. Zusätzlich bietet Orchestral Tools das Paket aber auch als Back-up auf einer Samsung 250 GB SSD-Festplatte für einen Aufpreis von 189 Euro an – so käme man um die lange Downloadzeit (je nach Internet-Verbindung mehrere Tage) herum. Damit wären wir dann aber auch schon bei nahezu 988 Euro, allein für die Blechbläser-Sektion des Berlin Orchestras. Der ambitionierte Amateur muss da schon schlucken. Wer hingegen sein Geld mit Film-, Werbe-, Game- oder Hörspiel-Scores verdient, wird über die Investition weniger lange nachdenken – sollte der Hersteller in Sachen Klangqualität halten, was er verspricht.

Die Gattung Blechblas-Instrumente

Die Gattung der Blechblas- oder richtiger Lippentoninstrumente umfassen all die Blasinstrumente, die mit einem Kessel- oder Trichtermundstück gespielt werden. Der Ton wird durch die schwingenden Lippen des Musikers in Ankopplung an eine Röhre erzeugt, in der eine (meist variabel lange) Luftsäule resoniert. Da die meisten dieser Instrumente heute aus einer Metalllegierung gefertigt werden, hat sich der Begriff Blechblasinstrument oder Brass (auf Deutsch wörtlich „Messing“) durchgesetzt. Aber auch aus echtem Horn gefertigte oder aus Holz geschnitzte Instrumente wie etwas das Alphorn oder die aus Kunststoff bestehende Vuvuzela zählen zu dieser Instrumentengattung.

Die Blechbläser wurden früher (manche auch heute noch) als langgezogene Trichter gefertigt, die durch reines Überblasen entlang der Naturtonreihe gespielt werden. Das bedeutete aber auch, je weiter das gewünschte Intervall vom Grundton entfernt ist, desto schwieriger ist es zu spielen und desto weiter ist der Ton von der temperierten Stimmung entfernt. So konnten bestimmte Töne dieser Naturtoninstrumente von den Komponisten nicht mehr verwendet werden, da sonst Dissonanzen zu den temperiert gestimmten Instrumenten entstanden.

Bei den meisten modernen Instrumenten wird die Tonveränderung daher über eine Verlängerung oder Verkürzung der Luftsäule über die Ventile (Trompeten, Hörner), Flügel, Klappen oder das Aus- und Einfahren eines Bügels (Posaunen) erreicht. So sind von einem modernen Orchester alle Töne der modernen Stimmung spielbar. Die für einen Laien merkwürdigen Schlingen und Windungen der Blechblasinstrumente und deren mitunter erhebliche Größe haben ebenfalls ihren Grund. Je tiefer das Instrument reicht, desto länger muss die schwingende Luftsäule werden. Wären diese Instrumente gerade und nicht gewunden, wären sie viele Meter lang (siehe Alphorn), was im Orchester zu einem nicht unerheblichen Platzproblem führen würde.

 

 

Die Berlin Brass Instrumenten-Auswahl

Die Ausstattung des Berlin Brass Pakets umfasst alle wichtigen Brot-und-Butter- Blechblas-Instrumente, die in einem klassischen Symphonie-Orchester zu finden sind. Das Paket ist trotz der Vielzahl der Artikulationen eindeutig auf klassische Musik zugeschnitten – mit etwas kompositorischer Phantasie sollte sich allerdings auch bedingt Jazz oder volkstümliche Blasmusik scoren lassen.

Da Blechbläser eine große Lautstärke und Durchsetzungskraft aufbringen können, sind für einen vollen Klang keine riesigen Besetzungen erforderlich. Orchestral Tools bietet daher – einzeln eingesetzt – „nur“ zehn verschiedene Instrumenten-Quellen. Dazu zählen vier unterschiedliche Solo-Hörner, die sich darüber auch als Ensemble spielen lassen, drei Solo-Trompeten, ebenfalls als Ensemble spielbar, zwei Posaunen und eine Bassposaune, ebenfalls kombinierbar, sowie eine Solo-Tuba. Darüber hinaus lassen sich alle Instrumente zu beliebig kombinierbaren Ensembles vom Nutzer selbst zusammensetzen.

Exotischeres und ergänzendes Instrumentarium soll sich über Expansion-Packs zukaufen lassen, hätte aber angesichts des doch gehobenen Preises schon dabei sein dürfen. Bei uns regt sich direkt der Wunsch nach barocken Klarintrompeten sowie dem Flügelhorn, den Wagner Tuben und dem Euphonium aus der Orchestral Tools Metropolis ARK 2-Library. Ersteres und Letzteres ist im Rahmen der Berlin Brass Expansion A (UVP: 199 Euro) wohl schon in Kombination mit Basstrompete und Kontrabass-Posaune zu haben.  Berlin Brass Expansion C (UVP: 167 Euro) wartet hingegen mit vier individuellen French Horns auf. Weitere Expansions stehen noch aus.

Klangspektrum

Bevor wir uns an die einzelnen .nki-Typen  machen, haben wir uns einen  klanglichen Eindruck vom gesampelten  Instrumentarium gemacht:

Die Hörner

Jedes der vier Hörner hat einen individuellen Klang, der sich in weniger oder mehr Vibration bei den tiefen Tönen und insgesamt in einem weicheren oder härteren Klangcharakter zeigt. Die Hörner 2, 3 und 4 reichen außerdem eine halbe Oktave tiefer als Horn 1. Im Ensemble klingen Sie je nach Artikulationsart warm, weich und natürlich oder auch sonor, durchdringend und bedrohlich. Durch die unterschiedlichen Artikulationen sind sie sehr wandelbar und vielseitig einsetzbar.

Trompeten

Auch die drei Trompeten besitzen ganz unterschiedliche Klangfarben. Sie reichen von der relativ grellen, leicht lärmenden Trompete 1 mit besonders großem Spielumfang, über die eher durchschnittliche Trompete 2 hin zur sehr weichen und angenehmen Trompete 3. Im Ensemble mischen sich die Klänge zu einem sehr durchdringenden Gefüge, das an lauten Orchesterstellen richtig strahlen kann. Die unterschiedlichen Artikulationen führen auch hier zu einem großen Ausdrucks-Spektrum. Einzig für leise, subtilere Abschnitte wünschen wir uns Artikulationen mit Dämpfer – solche sind allerdings im Basis-Paket nicht vorgesehen. An dieser Stelle können wir nur auf die Expansions hoffen.

Posaunen

Die Posaunen bewegen sich klanglich erwartungsgemäß irgendwo zwischen den Hörnern und Trompeten. Die Klangfarbe der beiden normalen Posaunen unterscheidet sich dabei nur ganz leicht, beide klingen in den Bässen sonor und vibrierend und in den Höhen eher weich und warm, gleichzeitig offen, ähnlich der Trompete 3. Der dröhnende, sonore Klang der Passposaune ergänzt die beiden anderen Instrumente nach unten und verleiht der Sektion einen markigen Charakter. Im Ensemble klingen die Posaunen sehr voll, durchdringend und offen, etwas weniger warm als die Hörnersektion, dabei machtvoll und beeindruckend. Die unterschiedlichen Artikulationen erlauben viel Variabilität bei der Phrasierung. Auch hier fehlen uns allerdings Varianten mit Dämpfer.

Tuba

Die Tuba hat trotz ihrer Tiefe einen wunderbar warmen Anstrich, der ihr voluminöse Fülle verleiht, ohne dass sie dabei zu sonor klingt. Sollte ein  sonoreres  Bassinstrument gewünscht sein, wäre die Bassposaune die richtige Wahl. Die Tuba eignet sich hingegen wunderbar als „weiches“ Fundamental-Instrument, das sich beispielsweise der Hörnersektion stimmig beiordnen lässt.

.nki-Presets

Mit einer Anzahl von 340 .nki-Instrumenten hat Orchestral Tools wirklich keine Mühen gescheut, Berlin Brass zu einer üppigen Library mit mannigfaltigen Klangmöglichkeiten zu machen. Die .nki-Presets sind, wie vom Hersteller gewohnt, in die drei Rubriken Multi Articulations, Single Articulations und TM Patches (= Time Machine Patches) geordnet.

Multi Articulations

Die 14 Multiartikulations sind Instrumente, die unterschiedlichste Artikulationen von – je nach Instrument oder Ensemble – diverse Sustains, Staccati, Marcati und Crescendi enthalten. Sie lassen sich auf dem MIDI-Keyboard über die Keyswitches mit der einen Hand umschalten und mit der anderen entsprechend variabel spielen.

Single Articulations

Die ganzen 274 Single Articulations sind nach Instrument und Ensemble in 14 Ordner sortiert. Sie enthalten auch Spielweisen, die in den Multi-Presets nicht enthalten sind und die Palette der Spielmöglichkeiten erheblich erweitern. Die reichen – je nach Instrument und Spielmöglichkeiten – von Legato, über Sustains, Staccatissimo, Staccato, kurzes und langes Marcato, fanfarenartige 16tel und Triolfiguren, lange und kurze Crescendi, Fortepiano-Artikulationen, Swells, Runs bis hin zu Trillern. Je nach Instrument stehen bis  zehn bis 24 unterschiedliche Single Articulations bereit.

TM Patches (= Time Machine Patches)

Ebenfalls in 14 Ordner gegliedert sind die 142 sogenannten Time Machine Patches. Diese erlauben es bei Artikulationsformen, bei denen das sinnvoll machbar ist, die Töne nach Wunsch zu verlängern oder zu verkürzen. Sehr kurze Artikulationen und solche mit mehreren Tönen sind hiervon natürlich ausgenommen. Alle anderen lassen sich nach Gusto nachbearbeiten, de facto also eigene Artikulations-Modifikationen schaffen – perfekt, wenn ein Preset einmal nicht exakt den Ton hervorbringt, den sich der Komponist vorstellt. Wie schon zuvor bei den Librarys von Orchestral Tools: eine große Bereicherung.

Capsule-Player Features

Zu all den Artikulationsoptionen kommen außerdem die bewährten Capsule-Player-Features mit obendrauf. Zu denen zählt zunächst die Möglichkeit, akribisch auf die Mikrofonierung des Sample-Materials eingehen zu können. Pro Instrument steht jeweils M/S-, Close-, ORTF-, AB-, Deccatree- oder Surround-Mikrofonie zur Wahl oder lässt sich nach Belieben zu einem passenden Bild zusammenmischen. Die Instrumente sind dabei schon perfekt im Raum verteilt und vorgepannt, wie wir das von Orchestral Tools kennen. Die Kombination mehrerer Librarys aus der gleichen oder unterschiedlichen Serien ist damit kein Problem. Jedes Signal sitzt automatisch perfekt.

Im Falle der Berlin Strings wurde allerdings nicht jedes einzelne Instrument mit einem Mikrofon für das Close-Micing versehen. Stattdessen wurde mit einem AB-Paar pro Sektion gearbeitet. So ist beispielsweise die Trompete 1 ganz links, die Trompete 3 ganz rechts zu hören, sollte nur das Close-Mic in die Mischung gelangen. Die Tuba als Einzelinstrument erhielt hingegen ihr eigenes Close-Mikrofon.

Hinzu kommen eine ganze Reihe anderer Eingriffmöglichkeiten, die wir im Rahmen des Metropolis ARK 2 Tests in Ausgabe 3/2017 schon einmal ausführlich beschrieben haben und nur ein weiteres Mal loben können. Zu ihnen zählt beispielsweise die Mischung unterschiedlicher Dynamic-Layer, das Einstellen der Volume-Range, Attack- und Release-Einstellungen, das Auswählen von Round Robin-Regeln, das zeichnen von Dynamikkurven und – ganz neu – das teilweise mögliche  Ausweiten der Range, sollte einmal ein Ton nicht ganz im Ambitus des gewünschten Sample-Instrumentes sein. So viele Eingriffsmöglichkeiten sind Gold wert.

EQ-ing und sonstiger Effekteinsatz findet bei Berlin Brass hingegen nicht statt. Der Scoring-Artist erhält den Raumklang der Teldex-Studios mit den im Raum perfekt positionierten Instrumenten in ihrem natürlichen Klang. Damit lässt sich dennoch vollkommen unkompliziert ein sofort gut klingender Orchestersatz erstellen, der in Natürlichkeit erst mal seinesgleichen suchen muss.

Einsatzempfehlung

Gemessen am Bedienkomfort eignet sich Berlin Brass, aber auch die ganze Berlin Series, nicht nur für den professionellen Scoring-Profi. Wer ein wenig über Musiktheorie, die gesampleten Instrumente, Arrangements und Komposition weiß, wird auch als ambitionierter Einsteiger hervorragende Klangergebnisse mit dieser Library und dem einfach zu bedienenden Capsule-Player erzielen. Allerdings ist es eine Frage der persönlichen Bereitschaft für Investition. Zum Vergleich: Für rund 150 Euro weniger könnte der interessierte Amateur-Scorer mit Metropolis ARK 1 mal eben ein ganzes Orchester in Orchestral Tools-Qualität unter die Finger bekommen und nicht nur eine einzelne Brass-Sektion.

Der Scoring-Profi, der alle Instrumente jedoch extrem detaillierter in Artikulation und Auswahl benötigt, ist hingegen mit der Berlin Series gut beraten. Er kommt auch mit einer Library von mehreren tausend Euro noch immer günstiger weg, als wenn er das fertige Score von einem Orchester live aufnehmen lässt, besonders bei einer Library von der Qualität der Berlin Series, wo das MIDI-Scoring mit der Library nicht nur ein Vorskizzieren der späteren Orchesteraufnahmen erlaubt, sondern diese qualitativ auch einfach ersetzen könnte – entsprechendes Know-how und Gefühl beim Scoring vorausgesetzt.

Fazit

Orchestral Tools hat mit Berlin Brass seine professionelle Scoring Library zu einem kompletten Orchester aufgestockt, das in seinem natürlichen Klang, seiner variablen Spielbarkeit und Benutzerfreundlichkeit in der absoluten Spitzenklasse rangiert. Vom Tuten und Blasen hat der Hersteller mehr als eine Ahnung und zeigt ein Feuerwerk der Artikulationen anhand nur weniger, doch sorgfältig ausgewählter Instrumente. Diese Qualität hat allerdings auch ihren Preis.