Orchester-Apparat
Preisfrage: Wie lange dauert es, um ein komplettes Orchester-Arrangement mit Streichern, Holz- und Blechbläsern zu produzieren, das überdies auch noch harmonisch abwechslungsreich und lebendig klingt? Tage? Wochen? Falsch. Mit der Minimal Library von Sonokinetic ist dies binnen Stunden und sogar Minuten erledigt. Das glauben Sie nicht? Dann lesen Sie diesen Test.
Von Georg Berger
Wer „mal eben auf die Schnelle“ ein komplettes Orchester-Arrangement hinzaubern möchte, dafür aber nur wenig Zeit oder schlimmstenfalls sogar nicht die zündende Idee hat, greift alternativ auf gesamplete Orchester-Phrasen zurück, die sich im Baukasten-Prinzip zu Arrangements schichten lassen. An diese Klientel wendet sich das holländische Soundware-Unternehmen Sonokinetic mit seiner Minimal-Library, die nicht nur sämtliche Instrumenten-Gruppen eines Orchesters enthält, sondern gleichzeitig mit einem Satz praxistauglicher Phrasen daherkommt, die sich überdies harmonisch ergänzen und das Endresultat wie aus einem Guß klingen lässt. Die rund 240 Euro kostende Library – wer mag kann anstelle des Downloads auch einen USB-Stick mit den Daten für einen Aufpreis von 25 Euro ordern – basiert auf gesampleten Phrasen, die sich in die Kategorien Streicher, Holz-, Blechbläser und Percussion aufteilen. In der Percussion-Sektion finden sich Sounds und Phrasen von Klavier, Celesta und zwei Marimbas. Als fünfte Kategorie kommen Phrasen in Tutti-Besetzung hinzu, die mit wechselnden Instrumentierungen aufwarten. Als Abspiel-Software kommt einmal mehr der Kontakt-Sampler, respektive die kostenlose Player-Variante von Native Instruments zum Einsatz, dessen Scripting-Engine auch für Minimal weidlich genutzt wurde. Die Loops setzen sich aus zweitaktigen Phrasen zusammen, die in den herkömmlichen, geradzahligen Taktrastern gespielt wurden. In den Tutti-Phrasen finden sich aber auch 3/4- und sogar 5/4-Metren. Dabei wurden sämtliche Phrasen in einem Tempo von 110 BPM eingespielt, wobei Minimal beim Anpassen des Tempos auf die Möglichkeiten des in Kontakt integrierten Time Machine Pro-Algorithmus zurückgreift. Dieser erledigt im Test einen exzellenten Job, bei dem Artefakte so gut wie nicht auftreten. Die Phrasen liegen sowohl in einer 16-, als auch 24-Bit-Auflösung bei 44,1 Kilohertz Samplingfrequenz vor, die insgesamt 30 Gigabyte an Festplattenspeicher benötigen. Dabei wurde jede Phrase komplett durch den Quintenzirkel geschickt, zum Großteil in Dur und Moll, so dass sie sich flexibel jeder Tonart anpassen können. Zusätzlich ist jede Phrase mit verschiedenen Mikrofonierungen, respektive aus verschiedenen Positionen aufgenommen worden, so dass der Anwender zusätzlich Einfluss auf die Räumlichkeit nehmen kann. Die Aufnahmen fanden, wie auch schon bei den hauseigenen Orchester-Librarys Vivace und Tutti, im mährischen Städtchen Zlin in der Tschechischen Republik statt, wobei das gleiche Team, das gleiche Orchester und der gleiche Konzertsaal zum Einsatz kamen. Damit dürfte also ein Zusammenspiel aller drei Librarys wie aus einem Guß klingen. Werfen wir einmal einen Blick auf das Kontakt-GUI.
„Stu-, Stu-, Stu-, Studioline“ war der erste Kommentar aus der Redaktion beim Betrachten des äußerst auffälligen GUIs. Wer sich noch an die 80er Jahre erinnert, wird unweigerlich an die Fernseh- und Kinowerbung eines Kosmetik-Herstellers erinnert, der seine Produkte seinerzeit mit demselben auffällig poppigen Design aus schwarzen Linien im rechten Winkel und den auffallend weißen und bunten Vierecken in Grundfarben erinnert. Dieses Design kommt allerdings nicht aus heiterem Himmel. Sowohl jener Kosmetik-Hersteller, als auch jetzt Sonokinetic erweisen mit diesem Design dem holländischen Künstler Piet Mondrian (1872 – 1944) ihre Reverenz, der viele seiner Gemälde mit ebenjenen Mustern aus schwarzen, weißen und bunten Vierecken versah und für Aufsehen sorgte. In Kontakt ist das GUI trotz seiner eher rustikal wirkenden Zweidimensionalität eine Schau, die seines Gleichen sucht. Gleichzeitig besticht es durch schnörkellose Einfachheit, bei der sämtliche Bedienelemente im direkten Zugriff stehen und der Library-Bezeichnung schon einmal alle Ehre macht. Vier Sektionen, respektive Slots finden Platz auf dem GUI. Ein Klick auf das Instrumenten-Symbol öffnet ein Menü aus dem sich nach Belieben eine andere Instrumenten-Gruppe auswählen lässt. Wer mag, kann also ein Setup aus vier Streichern oder aus zwei Streichern plus Tutti und Percussion oder jedwede andere Kombination zusammenstellen. Sieben dieser Kombinationen können pro Instanz in einem Zwischenspeicher abgelegt werden, die wahlweise über die weißen Taster am Kopf des GUI oder per Key-Switch blitzschnell aufrufbar sind. Jeder Slot verfügt über die gleichen Eingriffsmöglichkeiten, die selbstverständlich auch automatisierbar sind. Fader in Form kleiner Rechtecke um die Slots erlauben das Regulieren der Lautstärke, des Panoramas und das Einstellen eines Crossfades. Dahinter verbirgt sich eine Art Legato-Funktion, die ein nahtloses klangliches Anbinden beim Akkordwechsel realisiert. Die Gesamtlautstärke lässt sich via Modulations-Rad gefühlvoll einstellen. Ein Klick auf das Modulationsrad-Icon nimmt den Slot aus der Gesamtlautstärke-Steuerung heraus, so dass dieser nach wie vor hörbar ist, wenn das Rad unten steht. Damit sind schon einmal entsprechend dramatische Effekte möglich. Weiter geht’s mit einem Bypass-Button sowie der Möglichkeit, die geladenen Phrasen über das Notensymbol halb, doppelt so schnell, in Triolen oder punktiert abzuspielen.
Die Phrasen selbst werden in Form graphischer Symbole dargestellt, die in ihrer Gestalt eine ungefähre Vorstellung vom Ablauf der Töne geben. Ein Klick darauf lässt ein Menü erscheinen, aus dem sich weitere Phrasen auswählen lassen. Je nach Auswahl zeigt sich anschließend eine Reihe von Punkten im Slot. Sie repräsentieren Variationen der Phrase, die per Klick austauschbar sind. Im Test hätten wir uns trotzdem ein wenig mehr Information zu den Phrasen gewünscht. Das Gleiche könnte sich auch Sonokinetic gedacht haben, denn die Rettung naht durch Klick auf die Notenlinien-Sektion oben rechts. Daraufhin wechselt die Ansicht und eine waschechte Notendarstellung, sogar ein kleiner Partitur-Ausschnitt ist zu sehen. Durch Klick auf die Felder oben rechts, kann die Notierung für jede Sektion rasch angezeigt werden, bei Bedarf sogar in Dur oder Moll. Das ist beileibe kein Standard und dürfte gerade Komponisten in die Hände spielen. Besonderheit: Für rund 100 Euro ist sogar die komplette Partitur als kopiergeschütztes pdf-Dokument erhältlich. Wer sich häufig in dieser Ansicht aufhält, erhält damit eine willkommene Arbeitserleichterung. Abseits dessen haben wir uns nach einer kleinen Weile mit den Phrasen-Graphiken angefreundet. Treppenartige Verläufe verheißen perlende Dreiklangs-Brechungen. Eine Reihe horizontaler, übereinander liegender Striche sagt, dass wenig Melodie dafür rhythmisch markante Einsätze von den Instrumenten gespielt werden.
Damit ist der Feature-Reigen in Minimal noch nicht ganz abgerundet: Hinter dem Plus/Minus-Symbol verbirgt sich eine pfiffige Funktion, auf die der Hersteller besonders stolz ist, den sogenannten Harmonic Shift. Das Prozedere ist denkbar einfach: Ist die Funktion in einer oder mehreren Sektionen aktiviert, können diese mit Hilfe von Key-Switches relativ zur gespielten Grundtonart transponiert werden. Wird also C-Dur gespielt und anschließend der e-Tasten-Switch gedrückt, wird die Phrase in der Harmonic Shift aktivierten Sektion transponiert und in e-moll gespielt. Somit lässt sich das Gesamt-Arrangement auf denkbar einfache Weise harmonisch erweitern und mit reizvollen Parts anreichern, wobei der Effekt besonders deutlich wird, wenn zwei Slots den gleichen Inhalt besitzen und eine davon mit Harmonic Shift aufwartet. Last but not Least kann auch noch Einfluss auf die Mikrofonierung genommen werden. Zur Auswahl stehen die Varianten Decca (Tree), weit, nah und Balkon. Noch besser: Zwei Positionen sind sogar wählbar, die schließlich mit Hilfe des roten Dreiecks ausbalancierbar sind. Die Lite-Presets verfügen hingegen nur über eine „Stereo“ getaufte Mikrofonierung, die sich nicht ändern lässt und den Arbeitsspeicher entsprechend entlastet.
Die zentrale Steuerung der Library erfolgt jedoch über das MIDI-Keyboard, das außer einer Eineinhalb-Oktaven-Zone (in blau) zum Triggern der Samples, über eine Reihe von Key-Switches verfügt, von denen einige schon erwähnt wurden. So können die vier Slots bequem auf Bypass geschaltet werden, Instrumenten-Kombinationen im Zwischenspeicher sind dort rasch aufrufbar, die Harmonic-Shift-Funktion erwacht erst über Key-Switches zum Leben und last but not Least erlauben zwei weitere Keyboard-Tasten das An- oder Abschalten von Release-Samples und einer Retrigger-Funktion. Dabei lässt sich bestimmen, ob beim Akkordwechsel die Phrase von Beginn an gespielt oder nahtlos fortgesetzt werden soll, was wichtig für den Fluss und Ablauf des Arrangements ist.
Im Hör- und Praxistest stellt sich ganz zu Anfang erst einmal Ernüchterung ein. Wir spielen auf der Tastatur und was ist zu hören? Nichts. Das knappe, aber sehr informative Handbuch klärt auf: Damit Minimal überhaupt etwas ausgibt, ist ausschließlich das Spielen von Dreiklängen erlaubt. Grund: Im Hintergrund werkelt ein Analyse-Algorithmus, der auf Dreiklänge spezialisiert ist und nach Erkennen der gespielten Tonart die harmonisch entsprechenden Phrasen erst freigibt. Auffällig: Akkord-Umkehrungen werden im Test stets richtig analysiert und automatisch die richtige Tonart wieder gegeben. Beim Spielen von Septimen, Nonen, Vierklängen oder chromatischen Clustern bleibt der Kontakt-Sampler hingegen wieder stumm. Minimal braucht lediglich Basis-/Standard-Akkorde, was selbst Anfängern in Harmonielehre leicht fallen dürfte. Einmal verstanden, folgt der nächste Stolperstein. Wir bekommen zwar eine akustische Rückmeldung, doch jetzt quittiert Nuendo 6 das Spielen der Minimal-Library plötzlich mit einem CPU-Overload-Hinweis. Auf Nachfrage bei Sonokinetic wird uns empfohlen den ASIO-Guard zu deaktivieren oder mit den Lite-Presets zu arbeiten. In unserem Fall hat das Deaktivieren des ASIO-Guard sowie das Heraufsetzen des Sample Buffers jedoch schon gereicht, wenngleich die normalen Presets nach wie vor eine sehr hohe CPU-Last nach sich ziehen. Daher empfehlen wir beim Einspielen und Arrangieren die Lite-Presets zu nutzen und erst beim Rendern die „richtigen“ Presets. Nachdem diese Hürden beseitigt sind, entfaltet Minimal sogleich auch seinen ganz besonderen klanglichen Charme. Sämtlichen Phrasen wohnt ein eher zurückhaltender, fast schon intimer, zerbrechlicher Grundsound inne, der fast schon lyrisch zu nennen ist. Höhen und Bässe sind auf eigentümliche Art zurückgenommen ohne jedoch den Gesamtklang zu verfälschen. Der zusätzlich eingefangene Raumklang unterstützt dies noch, der die Phrasen mit einem zarten Schleier umgibt und mit ihnen förmlich verschmilzt. Dadurch schmeichelt er den Instrumenten, er lässt sie atmen und stattet sie bei aller Zerbrechlichkeit mit eindrucksvoller Plastizität aus. Die wählbaren Mikrofon-Varianten warten mit jeweils eigenen Dosierungen des Raumklangs auf, wobei die close-Stellung bis auf ein paar wenige Raumreflexionen den vordergründigsten Sound produziert und in Stellung „Balcony“ der größte Raumanteil hörbar ist.
Mächtig nach vorne preschende Bombast-Arrangements im Stile Richard Wagners sind damit nicht möglich. Vielmehr liefert Minimal bei Einsatz aller Instrumentengruppen ein solides klassisches Background-Arrangement, das immer noch merkbar zurückgenommen ist und somit im Mix ausreichend Platz für Solo-Stimmen lässt. So soll es sein. Ein ganz anderes Thema ist der musikalische Gehalt der einzelnen Phrasen, der nicht minder charakteristisch ausfällt. Die meisten Phrasen besitzen hierbei die Streicher (21 Phrasen) und Holzbläser (17 Phrasen), die auch mit den meisten wählbaren Varianten pro Phrase aufwarten. Die Blechbläser (5 Phrasen) sind im Vergleich dazu für unseren Geschmack nur spärlich vertreten. Es hätten ruhig mehr sein können. In den Streicher-Phrasen kommt uns weiterhin der Kontrabass zu kurz, der nur in homöopathischen Dosen eingesetzt wird. Stattdessen finden sich sehr viele Phrasen nur mit erster und zweiter Violine. Aber das ist natürlich auch Geschmackssache. Ärgerlich ist hingegen eine Reihe von Holzbläser-Phrasen in denen das Klappengeräusch der Instrumente überdeutlich hörbar und uns zuviel des Guten in Sachen Authentizität ist. Auffällig: Die Hauptrolle in den Percussion-Phrasen spielen eindeutig die beiden Marimbas. Celesta und Klavier kommen eher als i-Tüpfelchen zum Anreichern der Klangfarbe zum Einsatz. Das Repertoire konzentriert sich in allen Gruppen auf das Spielen von Wechselnoten, wahlweise auf einer Tonstufe oder transponiert über mehrere Tonstufen hinweg, auf das Spielen teils verschnörkelter Dreiklangs-Brechungen, mitunter sogar in Triolen und schließlich auf gehaltene Töne und Akkorde. Rhythmisch wird dies einerseits ostinat in Viertel- und Achtelnoten dargeboten, oftmals sind aber auch rhythmisch interessante Muster und Synkopierungen hörbar, die teils mehr an Popmusik als an Klassik erinnern, wobei die Instrumente dies durch wohldosierte Crescendi und Decrescendi im Bereich von zumeist piano bis mezzoforte dramatisch unterstützen. Virtuose Verzierungen, Triller und ähnliche Spielfiguren sind jedoch Fehlanzeige. Insofern wird die Library mit ihrem schnörkellosen Phrasen-Repertoire auch in dieser Disziplin ihrer Bezeichnung durchaus gerecht. Im Hörtest entdecken wir, wen wunderts, recht schnell auch musikalische Parallelen an die in den USA entwickelte Minimal Music. Dies ist insbesondere bei den vielen Marimba-Phrasen schon mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl. Viele Streicher- und Holzbläser-Phrasen erinnern zudem an Kompositionen von John Adams („Nixon in China“, „Shaker Loops“), dessen Orchester-Apparat auf ähnliche Art und Weise daherkommt. Anders hingegen die Tutti-Phrasen: Instrumentierung und musikalischer Gehalt erinnert uns eher an das Schaffen des amerikanischen Komponisten Aaron Copland, die mit erfrischender Lebendigkeit an Werke wie „Rodeo“ oder „Billy the Kid“ erinnern. Ein anderes Mal könnte aber auch der Franzose Darius Milhaud Pate gestanden haben mit Werken wie „Le boeuf sur le tôit“.
Im Praxistest haben wir tatsächlich mit nur wenigen Handgriffen und durch weidliches Ausnutzen und Aufrufen verschiedener Phrasen- und Instrumenten-Kombinationen via Key-Switches binnen Minuten ein abwechslungsreiches Orchester-Arrangement erstellt. Beeindruckend ist, wie sämtliche Phrasen harmonisch ineinander greifen und sich gegenseitig ergänzen. Da ist eine Menge Gehirnschmalz bei der Vorbereitung eingeflossen. Doch das Salz in der Suppe kommt erst durch gezieltes und intelligentes Einsetzen der Harmonic Shift-Funktion, mit der sich harmonisch reizvolle Effekte erzielen lassen und in Extremfällen sogar für tonale Reibung und die damit einhergehende Aufmerksamkeit sorgen. Dafür sind letztlich dann doch wieder entsprechende Kenntnisse in Harmonielehre nötig.
Fazit
Sonokinetic legt mit der Minimal-Library einen einfach zu handhabenden, kompletten Orchester-Baukasten vor, der hinsichtlich Umfang und Bedienkonzept unseres Wissens nach bislang einzigartig ist. Vergleichbares liefert zurzeit nur Native Instruments mit Produkten wie unter anderem Action Strings und Session Horns (Test in Heft 1/2013), wenngleich dort lediglich eine Instrumenten-Gruppe im Mittelpunkt steht. Das Hantieren mit geloopten Phrasen und Instrumenten-Gruppen macht nicht nur einen Riesen-Spaß, sondern wirkt durch die Bank inspirierend. Minimal überzeugt dabei durch Flexibilität, einen markanten Grundsound und eignet sich hervorragend als Lieferant orchestraler Background-Tapeten sei es für Film, Game oder Pop. Sonokinetic sollte sich überlegen, dieses Konzept weiterzuführen, denn es birgt eine Menge Potenzial für weitere thematisch spezialisierte Librarys.
Erschienen in Ausgabe 02/2014
Preisklasse: Oberklasse
Preis: 238 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut
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