Keine Hexerei

Mit den Bändchenmikrofonen Voodoo VR1 und VR2 will SE Electronics den typischen Bändchenklang mit der Höhenwiedergabe von Kondensatormikrofonen kombinieren und setzte dabei nicht etwa auf Hexerei, sondern auf die eigene Ingenieurskunst.

Von Harald Wittig


Der chinesische Mikrofon-Hersteller SE Electronics ist in den letzen Jahren immer wieder für eine Überraschung gut gewesen: Wir denken beispielsweise gerne an das in Ausgabe 7/2010 getestete Röhren-Mikrofon Gemini III zurück, bei dem die Mikrofonspezialisten aus dem Reich der Mitte anstelle des üblichen Ausgangsübertragers eine zweite Trioden-Röhre verwenden, was tatsächlich zu einem eigenen Klangcharakter führte.

Noch spektakulärer ist das RNR-1, denn dieses aktive Bändchenmikrofon entstand in enger Zusammenarbeit mit der Pro Audio-Entwicklerlegende Rupert Neve und konnte beim Test in Ausgabe 6/2009  rundum überzeugen: SE Electronics haben es mit diesem, allerdings mit rund 2.300 Euro schon sehr teuren Bändchenmikrofon geschafft, die typische Höhenschwäche klassischer Bändchen zu beseitigen. Die Tester attestierten dem RNR-1 für diesen Mikrofontyp eine „sensationelle Höhenauflösung“, die das Mikrofon in eine Reihe mit modernen Top-Bändchen stellt.
Siwei Zou, seines Zeichens Firmengründer und Chefdenker von SE Electronics und ganz nebenbei auch noch ausgebildeter Musiker, war aber von Anfang an bewusst, dass das RNR-1 nicht zuletzt wegen seines hohen Preises kaum als Brot- und Butter-Bändchen taugt und setzte sich schon vor der offiziellen Vorstellung des RNR-1 an seinen Schreibtisch, um eine erheblich kostengünstigere Variante zu entwickeln. Herausgekommen sind dabei die Modelle Voodoo VR1 und VR2, unserer beiden Testkandidaten. Diese beiden, 2010 präsentierten Bändchenmikrofone sollen ebenfalls einen erweiterten Höhenfrequenzgang ohne den traditionellen Höhenabfall ab fünf Kilohertz bieten, dabei aber deutlich günstiger als das RNR-1 zu haben sein. So kostest das VR1 rund  760 Euro, während das VR2 mit etwa 1.150 Euro zu Buche schlägt. Das sind selbstverständlich keine einsteigerfreundlichen Budgetpreise, was den Kenner nicht überrascht, denn die Topmikrofone von SE Electronics waren schon immer in höheren Preisregionen angesiedelt – Qualität hat eben ihren Preis.

Zunächst unterscheiden sich die beiden ansonsten äußerlich sehr ähnlichen Geschwister schon mal im Wuchs: Das VR1 bringt es auf die handliche Gesamtlänge von rund 130 Millimetern, während das hochgewachsene VR2 das Gardemaß von fast 190 Millimetern erreicht. Das erklärt sich aus den unterschiedlichen Konstruktionen der Voodoos. Während das VR1 ein passives Bändchenmikrofon ist und damit ganz klassisch für diesen Mikrofontyp zu den elektrodynamischen Wandlern zählt, ist das VR2 ein aktives Bändchenmikrofon. Es ist also mit einem internen Vorverstärker ausgestattet, der für die Impedanzwandlung zuständig ist. Diese inzwischen etablierte Variante – als Pionier gilt übrigens David Royer mit dem seinerzeit Maßstäbe setzenden R-122 (siehe den Test des R-122V in Ausgabe 5/2007) – bedarf für den Betrieb eine Spannung, die den Mikrofon-Vorverstärker speist. Folglich müssen am Preamp oder am Mischpult die 48 Volt-Phantomspannung aktiviert sein, anderenfalls gibt das VR2 keinen Muchs von sich. Der eigentliche Vorteil der aktiven Bändchen ist, zumindest in der Theorie, eine deutlich erhöhte Empfindlichkeit. Der Vorverstärker wird entlastet und muss für einen praktikabeln Arbeitspegel nicht allzu weit aufgerissene sein, was – selbstverständlich in Verbindung mit einem sehr guten Geräuschspannungsabstands  des Mikrofons – störgeräuschfreie oder rauscharme Aufnahmen gewährleistet. Tatsächlich ist das VR2 ausweislich unserer Messungen mit einer Empfindlichkeit von 18,2 mV/Pa für ein aktives Bändchen außergewöhnlich empfindlich und übertrifft damit beispielsweise das AT 4081 von Audio-Technica (Test in Ausgabe 2/2010) mit seinen 6,7 mV/Pa um fast das Dreifache. Auch so manchem Kondensatormikrofon würde dieser Wert zur Ehre gereichen. Anscheinend hat sich SE Electronics in puncto Empfindlichkeit am eigenen RNR-1 orientiert, das beim Professional audio-Test vor rund eineinhalb Jahren mit 17,3 mV/Pa eine neue Rekordmarke setzte. Wenngleich der Geräuschpegelabstand des neuen VR2 mit gemessenen 72,3 Dezibel nicht den Fabelwert von 79 Dezibel seines edlen und mehr als doppelt so teuren Verwandten erreicht, bietet auch das neue VR2 beste Vorraussetzungen für praktisch rauschfreie Aufnahmen auch von leisen Signalquellen. Das kleine VR1 steht hingegen in  bester Bändchentradition.  Mit 2,0 mV/Pa ist es flüsterleise, so dass es, soll es denn leise Signale einfangen, erhöhte Ansprüche an die Gain-Reserven und das Rauschverhalten des Preamps stellt.

Warum aber überhaupt mit dem VR1 – das gilt unter anderen Vorzeichen auch für das „laute“ VR2 – so filigrane Klangkörper wie beispielsweise eine gezupfte Nylonsaiten-Gitarre aufnehmen? Ganz einfach: Siwei Zou höchstselbst empfiehlt seine neuen Bändchen-Schöpfungen als Instrumentenmikrofone, denn er habe es geschafft, den Frequenzgang der beiden Geschwister zu linearisieren. Konkret sollen die beiden Voodoos den  charakteristischen Höhenabfall zwischen vier und acht Kilohertz klassischer Bändchen nicht aufweisen, außerdem sei der Frequenzgang im Bass und Mittenbereich geglättet. Da liegt der Vergleich zum hauseigenen RNR-1 nahe und wäre doch völlig daneben, denn anders als bei der Rupert Neve/Siwei Zou-Entwicklung erfolgt die Glättung und Erweiterung des Frequenzganges nicht über die ausgefuchste  Verstärker-Elektronik, sondern auf rein mechanischem Wege. Das Geheimnis – im wahrsten Sinne des Wortes – liegt in dem speziellen Kapselgehäuse, das dank seines Komponenten- und Materialmix, bestehend aus einer internen Metallplatte, mehrerer Lagen aus feinmaschigem Drahtgeflecht sowie den sechsreihigen Bohrungen auf der Front- und Rückseite des Gehäuses eine Höhenanhebung bewirken soll. Was sich genau hinter der zum Patent angemeldeten Gehäusekonstruktion verbirgt, verrät SE Electronics beziehungsweise Siwei Zou nicht. Jedenfalls hat diese Form der mechanischen Höhenwiedergabe-Korrektur den Vorteil, dass auch das passive VR1 in den Genuss dieser Frequenzgangkorrektur kommt. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass sich die Kapseln, besser die Wandlerelemente beider Voodoos nicht unterscheiden, was einen ähnlichen Grundklang vermuten lässt. Ob sich das Gehäusedesign tatsächlich wie von SE Electronics versprochen auswirkt, klären wir im Praxistest.

Sehen wir uns die Kapseln noch etwas genauer an: Das jeweils 2,5 Mikrometer dünne und knapp 50 Millimeter lange Bändchen ist, laut Herstellerangabe, praktisch aus reinem Aluminium. Eingespannt sind die Bändchen in einen Rahmen mit zwei starken Neodymium-Permanentmagneten, die grundsätzlich eine sehr gute magnetische Induktion gewährleisten. Damit sind VR1 und VR2 in allerbester Gesellschaft, denn sowohl Royer Labs (siehe die Tests des R-121 und R-122 V) als auch Audio Technica bei seinem ausgezeichneten AT 4081 (Editors Choice 2010 von Professional audio, siehe Ausgabe 1/2011) vertrauen bei der Wandlerkonstruktion auf Neodymium-Magnete.             
Beide Mikrofone sind sehr gut, dem Standard von SE Electronics entsprechend, verarbeitet. Die sehr solide wirkenden Metallgehäuse sind, charakteristisch für die Topmikrofone der Chinesen wie beispielsweise das Gemini III und das RNR-1, mit einer abrieb- und kratzfesten Gummischicht überzogen. Beide Schallwandler wirken wertig und vermitteln professionell-praktische Werkzeugqualität. Die beiden Holzetuis mit Magnetschließen behüten die rechteckigen Brikettchen, zusätzlichen Schutz der empfindlichen Kapsel bietet das schwarze  Samttäschchen. Im Etui findet sich jeweils eine Mikrofonklemme, welche die Mikrofone sicher am Schaft hält, zusätzlich gehören zwei gute elastische Halterungen zum Lieferumfang.

Bei der obligatorischen Messroutine im Professional audio-Messlabor erlaubt sich das VR1 allerdings einen herben Schnitzer: Das Wandlerelement ist um 180 Grad gedreht eingebaut, so dass die 0 Grad-Einsprechrichtung, die ein phasenrichtiges Ausgangssignal erzeugt, auf der Rück- und nicht auf der mit dem SE-Emblem markierten Vorderseite ist. Vermutlich handelt es sich um einen Individualfehler des Testmikrofons, denn nach Rücksprache mit dem deutschen Vertrieb Mega Audio weisen andere VR1 diesen Fehler nicht auf. Für die Praxis ändert das, sofern der Fehler bekannt ist, praktisch nichts. Wer aber beispielsweise in Unkenntnis der Verpolung nur eines Mikrofons Aufnahmen im Blumlein-Verfahren machen möchte, wird katastrophale Ergebnisse bekommen. Deswegen bekommt das Test-VR1 einen Abzug in der B-Note.
Die im MLS-Verfahren ermittelten Frequenzgänge lassen in der Tat einen weitaus weniger abrupten Höhenabfall erkennen, die Messkurven bleiben jeweils stabil bis etwa zehn Kilohertz. Die Kurven können allerdings nur eine Anmutung des tatsächlichen Frequenzganges geben, da, anders als bei Kondensatormikrofonen, die Messkurven wegen der Machart und Form des Wandlerelements nur mit vergleichsweise hohem Aufwand ermittelbar sind.

Deswegen gehen wir direkt zum Praxistest über, denn bekanntlich sind Frequenzgangschriebe bei allen Mikrofonen nur ein winziger Teil der Klangwahrheit. Wir nehmen für den Klangvergleich ein Solo-Stück mit unserer schon in vielen Aufnahmen bewährten Flamenco-Gitarre von Ricardo Sanchis Carpio unter Logic 9 Pro auf. Die beiden Testmikrofone sind jeweils über Vovox Sonorus-Kabel mit dem Referenz-Preamp Lake People Mic Amp F355 verbunden, die Analog-Digitalwandlung übernimmt der Lynx Aurora 8 der via Firewire mit dem Mac Pro verbunden ist. Zusätzlich zu den Mono-Aufnahmen mit beiden Voodoos, fertigen wir auch eine Stereoaufnahme im Blumlein-Verfahren mit VR1 und VR2 an. Alle Testaufnahmen finden Sie zum Nach- und Vergleichshören zum  freien Download in der Soundbank. 
Falls jemand befürchtet haben sollte, dass diese beiden Schallwandler den oft beschworenen, mitunter etwas  mystifizierten, einschmeichelend-sanften Bändchenklang verloren haben könnten, dürfen wir Entwarnung geben: Das Grundtimbre beider Mikrofone ist warm und samtig, wobei wir positiv verzeichnen, dass die beiden Voodoos im Tiefmitten und Bassbereich im Vergleich zu den vielen RCA/Vintage-Kopien zurückhaltender sind. Damit eignen sich beide Mikrofone sehr gut zur Aufnahme von akustischen Gitarren, allerdings sollte, wegen des vergleichsweise stärker ausgeprägten Nahheitseffekts ein gewisser Sicherheitsabstand von wenigstens 30 Zentimetern eingehalten werden. Dabei ist das aktive VR2 – Stichwort Rauschen – gegenüber seinem passiven Geschwister klar im Vorteil, wenngleich wir dank der extremen Rauscharmut des Referenz-Vorverstärkers kein störendes Rauschen auf der VR1-Aufnahme feststellen.
In   puncto Impulsverhalten stehen beide Voodoos in bester Bändchentradition – die beiden Geschwister folgen impulshaften Schallereignissen mühelos. Während Instrumental-, mitunter auch Sprach-Aufnahmen, mit Billig-Bändchen häufig einen dumpfen und etwas matten Klang haben, sorgt bei beiden eine hörbar verbesserte  Höhenauflösung für einen sehr viel frischeren und offeneren Klang. Das erinnert durchaus an Kondensatormikrofone, wenngleich der von Bändchen-Fans so geschätzte Weichzeichnereffekt stets präsent ist. Interessanterweise klingt das aktive VR2 trotz gleichen Wandlerelements deutlich knackiger als das VR1, was vermutlich aufs Konto der Verstärkerelektronik geht. Die klangliche Ausrichtung geht damit noch stärker in Richtung Kondensatormikrofon, dabei bleibt der gefällige Bändchen-Sound, der nicht zuletzt auch Musikern wegen der weniger vordergründigen Nebengeräuschen angenehm ins Ohr geht. Ein sehr gut gelungener Kompromiss, der das Aufnehmen mit diesem Mikrofon zu einem richtigen Vergnügen macht. Wer es noch Bändchen-typischer, also mit zurückhaltenderen Höhen mag, ist hingegen mit dem günstigeren VR2 besser bedient.
Es sei aber nicht verschwiegen, dass diese chinesischen Schallwandler mit dem Audio Technica AT 4080 einen ernstzunehmenden Konkurrenten haben. Das Audio Technica spielt locker auf dem Spitzenniveau des VR2 mit, übertrifft damit gleichzeitig das VR1 und kostet sogar noch rund 100 Euro weniger als das passive Voodoo. Das AT 4081 hat aber seinen eigenen klanglichen Fingerabdruck, der nicht notwendig jedem gefallen muss. Deswegen unser Rat: Hören Sie sich die Voodoos und das Audio Technica an und geben Sie, wenn der Anschaffungspreis keine Hauptrolle spielt, dem Mikrofon den Zuschlag, das Ihnen am Besten gefällt. 

Fazit

Sowohl das Voodoo VR1 als auch das VR2 können überzeugen, denn SE Electronics haben es tatsächlich geschafft, den warmen Bändchenklang mit einer deutlich verbesserten Höhenwiedergabe, die an Kondensatormikrofone erinnert, zu kombinieren. Das aktive VR2 setzt dies noch konsequenter um, rauscht praktisch nicht und empfiehlt sich nachhaltig als Instrumenten-Mikrofon für Aufnahmen mit eigenem Charakter.   

Erschienen in Ausgabe 03/2011

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 1149 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: gut – sehr gut