Die neue SE-Klasse
Was kommt dabei heraus, wenn sich ein Altmeister der analogen Schaltungstechnik und ein aufstrebender Studiomikrofon-Hersteller zusammentun, um ihr Know-how auszutauschen? Im Falle von Rupert Neve und Siwei Zou ein erstklassiges Bändchenmikrofon, das nicht nur optisch für Aufsehen sorgt, sondern auch in technischer Hinsicht innovativ ist.
Von Raphael Hornbruch
Analoglegende Rupert Neve will es offenbar nochmal wissen. Während Otto-Normalrentner sich längst auf sein Altenteil zurückgezogen hat, schwingt der über 80-jährige Entwickler noch munter den Lötkolben, um neben Produkten, die unter dem Namen Rupert-Neve-Designs vertreiben werden, auch für andere Hersteller der Audioindustrie Geräte zu entwickeln. Dass er dabei gerne auch neues Terrain betritt, beweist sein Beitrag zum Gitarren-Pickup „Expression System“ von Taylor Guitars, für das er die Vorverstärkerschaltungen entwarf. Nun ist es also ein Bändchenmikrofon, in das Neve seine Jahrzehnte lange Erfahrung einfließen lässt. Das Entwicklungsziel des RNR-1 war es nach dem Willen Siwei Zou‘s, Firmengründer von SE Electronics, das Bändchenmikrofon von seinen Schwächen zu befreien. Dieser noch vor zehn Jahren nahezu ausgestorbene Wandlertyp besitzt bekanntermaßen eine begrenzte Höhenwiedergabe und ein niedriges Ausgangssignal. Aufgrund seines warmen und luftigen Wohlklangs erlebt es allerdings gerade im kalten, digitalen Zeitalter einen zweiten Frühling. Das RNR-1 ist ein aktiver Vertreter dieser Mikrofongattung. Damit ist schon mal sichergestellt, dass der Ausgangspegel höher ist und somit auch Pre-Amps mit geringerem Verstärkungsfaktor mit ihm klarkommen. Es besitzt ein 2,5 Mikrometer dünnes Aluminiumbändchen. Der vom Hersteller angegebene maximale Schalldruck von 135 Dezibel ermöglicht auch die Aufnahme von lauteren Klangquellen, wie beispielsweise Bläsern oder Gitarrenverstärkern. Damit die empfindliche Kapsel während des Transports keinen Schaden nimmt, wird das RNR-1 in einer edlen Echtholzschatulle ausgeliefert, die wiederum, zusammen mit einer passenden elastischen Halterung, in einem Aluminiumkoffer ruht. Schließlich kostet das gute Stück rund 2.370 Euro, da sollte die Verpackung auch einen entsprechenden Schutz bieten und Solidität ausstrahlen. Als zusätzlicher Staubschutz ist das RNR-1 in ein schickes, schwarzes Stoff-Etui eingehüllt.
Das schlanke, elegant gestylte Gehäuse des RNR-1 ist mit knapp 28 Zentimetern außergewöhnlich lang. Die Kapsel sitzt im oberen Teil des Einsprechkorbs aus Drahtgeflecht und ist von außen gut zu erkennen. Dank seines geringen Durchmessers von fünf Zentimetern lässt sich das Mikrofon gut positionieren und nahe an die meisten Schallquellen heranführen. Glücklicherweise haben die Gehäuse-Designer auf ein klobiges Vintage-Aussehen verzichtet. Vielmehr strahlt das RNR-1-Gehäuse die Faszination eines modernen, von einem Stararchitekten designten Wolkenkratzers aus. Das eingravierte Rupert Neve-Signet prangt in blau auf einer Seite des Mikrofongehäuses, direkt über dem Schalter für ein Hochpassfilter. Dieses greift bei 50 Hertz mit einer Steilheit von sechs Dezibel pro Oktave sehr sanft ein.
Modern ist auch die matt-schwarze Oberfläche, die mit einem gummierten Überzug versehen ist. Dieser macht das immerhin knapp 900 Gramm schwere Mikrofon sehr griffig, was die Handhabung erleichtert. Zudem ist die Oberfläche unempfindlich gegen Kratzer und Fingerabdrücke. Die mitgelieferte elastische Halterung ist ebenfalls mattschwarz, die Metallteile mit dem gleichen Material überzogen wie das Mikrofon selbst. Dieses wird in die Spinne eingeschraubt. Hierzu verfügt der Schaft des RNR-1 über ein Gewinde oberhalb des XLR-Anschlusses. In der stabilen Spinne verschraubt, ist das Mikrofon sehr gut ausbalanciert, so dass auch bei winkliger Aufstellung keine Kopflastigkeit entsteht. Insgesamt hinterlassen sowohl Mikrofon als auch Zubehör einen sehr soliden und ausgesprochen edlen Eindruck. Obwohl Rupert Neve sich in der Vergangenheit in erster Linie mit Mischpulten und Vorverstärkern beschäftigte, hat er seine eigenen Vorstellungen bezüglich der Elektronik von Studiomikrofonen, die im Zuge der Kooperation mit SE jetzt erstmalig in ein endgültiges Produkt eingeflossen sind. Übrigens plant SE Electronics für die Zukunft weitere Mikrofone in Zusammenarbeit mit Rupert Neve. Bereits angekündigt sind Großmembran-Kondensatormikrofone in Röhren- und Transistortechnik. Für das RNR-1 greift der Analog-Veteran auf Schaltungen zurück, die er auf einen optimalen Klang hin entwickelt hat: Durchgängig diskret aufgebaute Schaltungen und nach eigenen Spezifikationen gefertigte Übertrager. Nach ähnlichem Muster ist die mehrfach preisgekrönte Konsole 5088 aus dem Hause Rupert Neve Designs gestrickt. Die besondere Herausforderung bei der Verwendung von Übertragern war nach eigener Aussage die akribische Anpassung der Bauteile an das empfindliche Kapselelement. Darüber hinaus musste der Klang so abgestimmt werden, dass die Höhenwiedergabe auf elektrischem Wege verbessert wird. Ob die Abstimmung gelungen ist, erfahren wir im Messlabor und im Hörtest. Der Frequenzgang wird vom Hersteller mit 20 Hertz bis 25 Kilohertz angegeben, was für ein Mikrofon dieser Gattung ein sensationeller Wert ist, da diese, wie bereits erwähnt, normalerweise oberhalb fünf Kilohertz einen Pegelabfall in den Höhen verzeichnen. Unsere Frequenzmessung nach dem MLS-Verfahren (siehe unseren Messtechnik-Workshop im letzten Heft) zeigt tatsächlich einen sehr weiten, für Bändchenmikrofone unüblichen, Frequenzbereich.
Zunächst fällt eine kleine Senke bei vier Kilohertz auf. Darüber ist nochmal ein Anstieg bis neun Kilohertz zu verzeichnen, bevor das Signal endgültig abfällt. Der beiliegende Frequenzschrieb des Herstellers verzeichnet einen weiteren Anstieg zwischen 20 und 25 Kilohertz, der für uns allerdings messtechnisch nicht nachvollziehbar ist, da Professional audio bis 20 Kilohertz misst. Als aktives Bändchenmikrofon hat das RNR-1 erwartungsgemäß eine höhere Ausgangsspannung als die klassische Passiv-Konstruktion. Das Messlabor ermittelt mit 17,3 Millivolt pro Pascal einen Wert, der sich mit Kondensatormikrofonen messen kann. Der ausgezeichnete Geräuschpegelabstand von 79 Dezibel macht das RNR-1 zu einem sehr rauscharmen Mikrofon.
Da die Klangeigenschaften nicht allein mit der Frequenzmessung erfasst werden, sind wir gespannt darauf zu erfahren, ob die Zielsetzung der Entwickler auch in klanglicher Hinsicht gelungen ist. Dazu nehmen wir eine klassische Gitarre auf. Als Vorverstärker kommt, wie immer die Professional audio-Referenz, der Lake People F355 in Verbindung mit dem A/D-Wandler Lynx Aurora 8 zum Einsatz. Aufgenommen wird in Cubase 5. Um dem bei Druckgradientenmikrofonen vorhandenen Nahbesprechungseffekt entgegenzuwirken, stellen wir das RNR-1 etwa 30 Zentimeter von der Gitarre entfernt auf. Erwartungsgemäß weist das RNR-1 bändchentypische Merkmale wie runde, volle Bässe und luftige Mitten auf. Dazu gesellt sich, wie von den Entwicklern beabsichtigt, tatsächlich eine sehr feine Auflösung in den Höhen. Zugegeben, auch andere moderne Vertreter dieses Wandlerprinzips, wie zum Beispiel das R-1 aus gleichem Hause oder das Royer R-121 sind in der Lage, die Höhen fein aufzulösen, dennoch ist das RNR-1 in dieser Disziplin eine Klasse für sich. Die Höhenwiedergabe ist für ein Mikrofon dieser Kategorie wirklich sensationell. Im direkten Vergleich mit dem Großmembran-Kondensatormikrofon Oceanus von Lauten Audio (Test in dieser Ausgabe, siehe Seite 54) ist zwar ein Höhenabfall hörbar, trotzdem klingt das RNR-1 alles andere als dumpf. Auch die räumliche Wiedergabe ist exzellent. Unser Testkandidat nimmt die Schwingungen aus dem Raum äußerst präzise auf und vermittelt den Eindruck, wir stünden direkt im Aufnahmeraum. Das lässt sich nur teilweise auf die Achter-Charakteristik zurückführen, denn das Vergleichsmikrofon in gleicher Stellung bildet den Raum weniger präzise ab.
Anschließend machen wir Sprachaufnahmen mit einer männlichen Stimme. Der Abstand zwischen Sprecher und Mikrofon beträgt auch hier etwa 30 Zentimeter. Da uns nach dem Abhören des ersten Takes der Nahbesprechungseffekt zu stark erscheint, erhöhen wir den Abstand auf 50 Zentimeter und schalten zusätzlich das Hochpassfilter ein. Danach erklingen die sonoren Bässe des Sprechers zwar immer noch sehr voll und rund, aber nicht mehr ganz so aufdringlich. Da das Hochpassfilter mit 50 Hertz sehr tief ansetzt, macht es sich bei den Sprachaufnahmen kaum bemerkbar. Die mittleren Register sind sehr präsent und sorgen für Durchsetzungskraft und Nähe. Konsonanten und S-Laute sind sehr gut hörbar, was der Sprachverständlichkeit zu Gute kommt. Gleichzeitig klingen die Konsonanten sehr samtig und fein. Alles in allem kommt die Stimme sehr angenehm rüber. Im Gegensatz dazu gibt das Kondensatormikrofon der Vergleichsaufnahme die Höhen wesentlich spitzer, die Mitten und Bässe dafür flacher wieder. Gern gesehen wird ein Bändchenmikrofon vor E-Gitarrenverstärkern. Ähnlich wie bei dynamischen Tauchspulen-Mikrofonen sorgt die dezentere Auflösung für einen wärmeren Klang und vermindert spitz klingende Höhen. Wir wollen wissen, wie sich das RNR-1 in dieser Situation verhält. Dazu wählen wir eine Gitarren-Verstärker-Kombination mit sehr viel „Twang“. Wir stöpseln eine Fender-Stratocaster in einen Fender-Röhrencombo und positionieren das RNR-1 vor dem 12-Zoll-Lautsprecher. Das Ergebnis überzeugt uns nicht wirklich: Aufgrund der guten Auflösung dämpft das Bändchen die Höhen nur mäßig ab. Auch bei sorgfältiger Ausrichtung des Mikrofons in verschiedenen Positionen vor der Lautsprechermembran klingt die Gitarrenaufnahme extrem spitz. Dies widerspricht zwar den klassischen Einsatzbereichen für ein Bändchenmikrofon, spricht aber für die gute Wiedergabequalität des RNR-1. Ansonsten sind die Einsatzmöglichkeiten für das RNR-1 vielfältig, so dass es nicht leicht fällt, eine konkrete Empfehlung auszusprechen. Vielmehr kann es überall dort eingesetzt werden, wo der spezielle Bändchenklang ertönen soll. Gleichzeitig muss dabei nicht auf eine gute Auflösung verzichtet werden. So ist das RNR-1 keinesfalls auf die Spezialanwendung als Weichmacher beschränkt. Hinzu kommt, dass es dank seiner hohen Empfindlichkeit keine besonderen Anforderungen an den Vorverstärker stellt.
FAZIT
Das SE Electronics RNR-1 erfüllt alle Erwartungen an ein Bändchenmikrofon. Was die Höhenauflösung betrifft, verschiebt das RNR-1 die Grenzen deutlich nach oben. Dank dieser Eigenschaften ist es universell einsetzbar. Es verleiht Instrumenten und Stimmen Intimität und einen eigenen, rauchigen Charakter bei gleichzeitig guter räumlicher Darstellung – für Liebhaber eines feinen, durchsichtigen Klanges eine heiße Empfehlung.
Erschienen in Ausgabe 06/2009
Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 2370 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: gut
Hinterlasse einen Kommentar