Vice versa

In professionellen Studios, sagt man, hängen immer zwei Uhren: eine für die Zeit und eine für das Musikerhonorar. Der X-Amp von Radia l hält zwar nicht die Zeit an, dafür aber das Studio-Taxometer. 

Von Michael Nötges

Denis Rozon, Chefentwickler der kanadischen Firma Radial Engineering hat ein Herz für kostengeplagte Studiobesitzer. X-Amp heißt seine neueste Entwicklung. Dabei handelt es sich um eine umgekehrt wirkende aktive DI-Box, die der Hersteller ob seines Verwendungszwecks als Amp-Driver oder Re-Amping Device bezeichnet. Das hört sich zunächst lediglich nach einem pragmatischen Werkzeug an, ist aber in Wahrheit weit mehr als das. Der X-Amp schickt sich an, das vieler Orts bereits in Vergessenheit geratene Re-Amping (siehe Kasten) wieder salonfähig zu machen. Mit Hilfe des aktiven X-Amps lassen sich bereits aufgenommene Direkt-Signale, beispielsweise einer Gitarre, wieder über einen Gitarren-Verstärker schicken. Die Wahl der Mikrofone und des Verstärker-Setups entscheidet dann über den Sound der neuen Aufnahme.

Der Vorteil: Häufig setzen sich Produzenten erst nach einer Aufnahme-Session an das eigentliche Sounddesign, während der Musiker längst bezahlt ist und wieder auf der heimischen Couch sitzt. Außerdem sind auf diese Weise Dopplungen immer 100-prozentig auf den Punkt gespielt und das entspannte Experimentieren mit verschiedenen Verstärkern, Klangeinstellungen und Mikrofonierungen ist so ohne Zeitdruck und womöglich entnervtem Gitarristen möglich. Das schöne dabei ist: Für den X-Amp muss nur einmal ein Betrag von zirka 220 Euro investiert werden. Außerdem ist der Amp-Driver niemals gestresst und anscheinend überaus belastbar – und das wohl über Jahre hinweg.

Der X-Amp bringt ein Gewicht von stolzen 1.000 Gramm auf die Waage und liegt dabei massiv wie ein Kohlebrikett in der Hand. Das blau emaillierte Gehäuse besteht aus einer doppelten Stahlblech-Konstruktion: ein U-Profil umschließt eine nach oben und zur Seitenwand hin geöffnete Innenwanne, auf der die Platine montiert ist. Dabei überlappt die Außenschale den Kern um zirka fünf Millimeter. Das Ergebnis erinnert an ein dickes, gebundenes Buch im Din-A6-Format und wird daher auch als Book-End-Design bezeichnet. Damit ist der X-Amp äußerst widerstandsfähig konstruiert und die Buchsen und Bedienelemente sind vor mechanischer Beschädigung geschützt. Auf der Unterseite ist ein Isolations-Pad aufgeklebt, das auf der einen Seite für mechanische und elektronische Isolation sorgen soll, auf der anderen Seite rutschfesten Halt auf glatten Oberflächen bietet.

Der symmetrische XLR-Eingang ist mit einer Impedanz von 600 Ohm und einer im Messlabor von Professional audio Magazin ermittelten Eingangsempfindlichkeit für Line-Pegel von +15,4 dBu für eine Ausgangsspannung von +4 dBu ausgelegt. Der benachbarte Tast-Schalter dient als Ground-Lift zur Eliminierung von Brummschleifen. Bei Aktivierung wird die Masseverbindung zu Pin1 aufgehoben. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich die beiden Ausgänge (6,35-mm-Klinkenbuchsen).

Der erste Ausgang ist direkt gekoppelt, der zweite per Transformator galvanisch entkoppelt. Brummschleifen und störende Einstreuungen bei der Ansteuerung eines zweiten Gitarren-Verstärkers sind dadurch so gut wie ausgeschlossen. Außerdem ist es möglich, die Phase von Ausgang zwei um 180 Grad zu drehen. Das bringt dann beide Ausgänge und damit die angeschlossenen Verstärker in Phase. Außerdem ist für diesen Signalweg ein zusätzlicher Ground-Lift-Schalter im Gehäuseinnern verborgen. Dieser lässt sich mit einem langen spitzen Gegenstand, der durch ein Loch in der Seitenwand geschoben werden muss, aktivieren. Gitarristen freuen sich über den Ausgangspegel-Regler mit einem Regelbereich von 75 Dezibel, dieser ragt zum Schutz gegen versehentliches Verstellen lediglich drei Millimeter aus dem Gehäuse, lässt sich aber mit dem Plektrum komfortabel bedienen.

Wesentlich greifbarer sind die Messwerte des X-Amp. Allen voran der exzellente Geräuschspannungsabstand von -112 und der ebenso über jeden Zweifel erhabene Fremdspannungsabstand von -109 dBu. Diese Werte liegen jenseits von Gut und Böse und garantieren absolut rauschfreie und klare Signalübertragung. Der Frequenzgang ist bis hinauf zu einem Kilohertz linear, sackt dann allerdings bis 20 Kilohertz langsam aber sicher um knappe zwei dBu ab. Die FFT-Analysen, über die beiden Ausgänge gemessen, liefern fast deckungsgleiche Ergebnisse: Die harmonischen Verzerrungswerte zweiter und vierter Ordnung (K2 und K4) liegen bei -80 beziehungsweise bei -130 Dezibel, unharmonische Verzerrungen (K3) werden um 108 Dezibel gedämpft. Mit einem maximalen Gesamtklirrfaktor von 0,02 Prozent liefert der X-Amp also sehr gute Werte und lässt rein messtechnisch betrachtet, dank der harmonischen Oberwellen einen eher warmen, wohl kaum harschen Eigenklang erwarten. Ein Grund mehr, sich auf den ausführlichen Praxistest zu freuen.

Während unserer ausführlichen Re-Amping-Sessions bereitet der X-Amp nicht nur keinerlei Probleme, sondern funktioniert in der Praxis hervorragend. So lässt er sich anstandslos an den Ausgang der Soundkarte anschließen und geleitet das Signal sicher zum Eingang eines Engl Squeeze 50 Röhren-Combos. Im Vergleich zur direkt über den Amp gespielten Gitarre treten beim Re-Amping – wie bei den sehr guten Messwerten zu erwarten war – weder zusätzliche Störgeräusche noch Klangfärbungen auf. Der X-Amp ist sozusagen unsichtbar. Jetzt gilt es, zwei direkt in Cubase eingespielte Gitarrensignale zu doppeln und damit den Gesamtklang eines Gitarren-Parts zu optimieren. Da uns dieser zu dünn klingt, wollen wir herausfinden, ob der X-Amp Abhilfe schaffen kann. Wir routen eins der beiden Signale auf einen Ausgang der Soundkarte, markieren einen Loop im Sequenzer und starten die Wiedergabe.

Ganz in Ruhe stellen wir einen satten Crunch-Sound ein, justieren die beiden AKG 414B in Stellung Nieren-Charakteristik (Test Ausgabe 6/2007) – eins zeigt auf den Membran-Mittepunkt, das andere auf deren Rand – und hören das Stereosignal über Kopfhörer ab. Nach kleinen Korrekturen der Mikrofonpositionen und Verstärkereinstellungen sind wir zufrieden und starten die Aufnahme. Nach der Änderung des Routings, um das zweite Ausgangssignal als Grundlage für die weiteren Aufnahmen zu verwenden, mikrofonieren wir den Verstärker neu. Das Bändchenmikrofon VR88 von Samson (Test Ausgabe 7/2007) richten wir, leicht von oben geneigt, auf die Mitte des Chassis. Das Schoeps MK 2 H/CMC 6ug mit Kugelcharakteristik weist auf den Membranrand und ist zirka 40 Zentimeter von diesem entfernt, um den Raumanteil etwas zu erhöhen. Die beiden Signale nehmen wir auf getrennten Mono-Spuren auf. Jetzt stellen wir einen höhenreichen, sowie präsenten Clean-Sound ein, um später mehr Punch in den Gitarren-Part zu bekommen und wiederholen die Aufnahme.

Im Sequenzer lassen sich durch Kompressoren und leichten EQ-Einsatz die Charakteristika der unterschiedlichen Aufnahmen schärfen und anschließend die Signale zu einem kompakten Klangkörper mischen. Die AKG-Aufnahme positionieren wir in der Stereo-Mitte, die beiden Signale des zweiten Takes legen wir auf zehn und zwei Uhr. Jetzt ergänzen wir diese mit den Signalen der cleanen Aufnahme, um mehr Attack zu bekommen. Für die beiden Ausgangssignale wählen wir schließlich in Guitar Rig 2 einen schönen AC30 Crunch-Sound aus: Vor uns steht jetzt eine stimmige Klangmauer: satt und mit viel Druck, der dünne Sound ist vergessen.

Fazit

Der X-Amp von Radial hält, was der Hersteller verspricht. Unkompliziert und mit 220 Euro kostengünstig, lassen sich trockene DI-Signale über unterschiedliche Verstärker mit verschiedenen Mikrofonierungen und Einstellungen erneut aufnehmen. Während einer Aufnahme-Session werden so nervtötende und im Endeffekt kostspielige Klangexperimente vermieden. Das kleine Kästchen beflügelt die Kreativität und schafft die Vorrausetzungen für interessantes Sounddesign – in aller Ruhe und ohne zeitlichen, dafür aber nach Belieben mit sehr viel klanglichem Druck.

 

Erschienen in Ausgabe 08/2007

Preisklasse: Oberklasse
Preis: 220 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut