Messerscharfe Sounds

Mit dem Synthesizer Razor entstaubt Native Instruments das Prinzip der additiven Synthese und hebt es auf ein neues atemberaubendes Level in Sachen Klangformung. Was dahinter steckt, wie Razor klingt und sich bedienen lässt, steht im Test.

Von Georg Berger

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein neuer Synthesizer am Markt erscheint, der mit einer Klangerzeugung jenseits der subtraktiven Synthese aufwartet. Die Rede ist von Razor, Native Instruments jüngstem Streich. Anders als der Mainstream realisiert Razor seine Sounds ausschließlich per additiver Synthese. Sicherlich, Razor ist nicht der erste Synthesizer, der sich dieser Art der Klangerzeugung bedient. Im Hardware-Sektor verfügen Modelle wie der K5000 von Kawai oder das legendäre Synclavier ebenfalls über diese Synthese-Art. Auch im Software-Bereich feiert die additive Synthese bereits fröhliche Urständ in Plug-ins wie etwa Cube von Virsyn, Camel Audio Alchemy oder Morphine von Image Line. Doch anders als die genannten Mitbewerber wendet Razor diese Synthese-Form in einer, unseres Wissens nach, bislang unerreichten Tiefe auf die Klangformung an. Denn die additive Synthese-Engine in Razor erledigt nicht nur den Job der Klangerzeugung, sondern berechnet gleichzeitig auch Filter und Effekte wie etwa Chorus, Flanger, Phaser und sogar Hall. Razor soll über ganz und gar ungewöhnliche Klangspektren verfügen und Dinge realisieren, die mit herkömmlichen Synthesizern nicht möglich sind, etwa aufwändige Filterverläufe, die gleichzeitig Effekte wie etwa Phaser realisieren oder einen in der Tonhöhe manipulierbaren Nachhall. Laut Hersteller soll das alles mit einem äußerst transparenten und klaren Klang einhergehen, der frei von klanglichen Artefakten ist. Das hört sich zunächst völlig verrückt an und nährt den Verdacht, dass Razor mehrere Jahre der Entwicklung in Anspruch genommen hat, was sich der Hersteller letztlich über einen sehr hohen Verkaufspreis bezahlen lässt. Doch weit gefehlt, denn Razor kostet gerade einmal 70 Euro und Scharen von Entwicklern waren zu seiner Realisierung auch nicht nötig. Der Synthesizer ist vom deutschen Dancefloor-Produzenten Errorsmith in Zusammenarbeit mit Native Instruments entwickelt worden.

Razor basiert auf dem modularen Synthesizer Reaktor 5.5 und lässt sich darin, wie ebenso im kostenlosen Reaktor Player, als sogenanntes Player-Instrument dort laden und spielen. Ein kurzer Blick in die Signal-Struktur von Razor zeigt eine aufwändige Verknüpfung verschiedener Module. Das wichtigste Modul ist dabei das in Reaktor 5.5 neu hinzugefügte Sine Bank-Modul, das ebenjene additive Synthese realisiert. Das Beste: Zum Spielen und Editieren von Razor ist kein Studium der Physik oder Elektroakustik erforderlich. Die Bedienoberfläche folgt dem althergebrachten Prinzip der subtraktiven Synthese, bestehend aus editierbaren Oszillatoren, Filtern, Effekten, LFOs und Hüllkurven. Der Anwender kann also in einer vertrauten Umgebung an Sounds schrauben, wobei im Hintergrund aufwändige und komplexe Rechenprozesse stattfinden. Um zu verstehen, wie das funktioniert und was beim Drehen vertrauter Parameter wie etwa Filter-Cutoff oder Pulsweite geschieht, widmen wir uns zuerst kurz dem Prinzip der additiven Synthese.  Die additive Synthese als solche ist, wie erwähnt, eigentlich ein alter Hut. Sie wurde erstmals vom französischen Mathematiker Joseph Fourier theoretisch beschrieben und besagt, grob gesprochen, dass sich Klänge aus einer Vielzahl einzelner Sinus-Schwingungen – Teiltöne oder Partials genannt – zusammensetzen, die jeweils unterschiedlich starke Amplituden, Frequenzen und Hüllkurvenverläufe besitzen. Der resultierende Klang wird dabei maßgeblich vom Verhältnis der Teiltöne, bezogen auf den Grundton bestimmt. Geradzahlige Teiltonbeziehungen resultieren, salopp gesagt, in harmonischen Klängen mit definierter Tonhöhe, wohingegen ungeradzahlige Teilton-Reihen in dissonante, geräuschhafte Klangspektren münden, wobei der Grundton die Tonhöhe des resultierenden Klangs bestimmt. Eine ganz simple Form der additiven Synthese bildet übrigens die gute alte Zugriegel-Orgel, die durch das Mischen von unterschiedlich hohen Sinustönen in den einzelnen Fußlagen entsprechende Spektren erzeugen. Das Sine Bank Modul in Reaktor 5.5 verfügt über 320 Teiltöne, die sowohl in der Amplitude, als auch in der Frequenz und sogar der Phasenlage programmierbar sind. Durch Berechnen dieser drei Parameter erzeugt Razor wie gesagt nicht nur verschiedene Klangspektren. Über simple Mathematik lassen sich den Klangspektren Filterverläufe etwa durch Ändern der Teilton-Amplituden hinzufügen. Dissonante Effekte sind durch Ändern der Teilton-Verhältnisse rasch realisierbar. Chorus- und Phaser-Effekte werden ebenfalls via Amplitudenmodulation der Teiltöne realisiert. Stereo-Effekte wie etwa simples Panning werden durch separate Amplituden-Manipulation der Teiltöne in den einzelnen Kanälen erzielt. Der Hall-Effekt wird dem Klang ganz einfach durch zeitlich versetztes Hinzufügen von Rauschanteilen aufgeprägt, die wiederum über das Sine Bank-Modul realisiert werden. Das Verfahren en detail erläutern zu wollen, würde den Rahmen des Artikels allerdings bei weitem sprengen. Stattdessen konzentrieren wir uns darauf, wie sich das Sine Bank-Modul über das Frontend, also die Bedienoberfläche, beeinflussen lässt.   Die Bedienoberfläche von Razor zeigt ein übersichtliches Layout, das mit der Ausstattung eines herkömmlichen subtraktiven Synthesizers aufwartet, wobei jede Sektion separat per Button aktivierbar ist. Hingucker ist das zentrale Display, das beim Spielen das erzeugte Spektrum des Sine Bank-Moduls, ähnlich einem Analyser, in Echtzeit anzeigt. Der Clou: Der aktivierbare 3D-Modus zeigt einen dreidimensionalen zeitlichen Klangverlauf an, der mehr als nur hübsch anzusehen ist. Im Test entdecken wir uns mehrfach dabei, wie wir Einstellungen nicht mehr mit unseren Ohren, sondern nur noch mit den Augen vornehmen. Das Display macht richtig süchtig nach neuen graphischen Verläufen. Doch zurück zu den Bedienelementen: Jeweils zwei editierbare Oszillatoren mit je 14 wählbaren Wellenformen werden zusammengemischt und anschließend seriell durch Filter 1 und 2 geschickt. Das Zusammenspiel beider Oszillatoren wird wiederum per mathematischer Berechnung der Frequenz, Amplitude und Phasenlage der 320 Teiltöne realisiert. Die beiden Filtersektionen warten mit einem unterschiedlichen Repertoire an wählbaren Filter-Charakteristiken auf, wobei sich Filter 1 auf das Ausfiltern hoher Frequenzen konzentriert und Filter 2 sich als Ergänzung zu Filter 1 positioniert. Besonderheit: Filter 1 stellt sogar einen 34-Band-Vocoder bereit, wobei sich sowohl in Reaktor, als auch in seiner Player-Version externe Signale als Modulator einspeisen lassen, die anschließend den Sound von Razor entsprechend beeinflussen. Doch zurück zum Signalfluss.

Insgesamt drei Effekt-Sektionen schließen sich an die Filter-Sektion an: Dissonance, Stereo und Dynamics. Die Dissonance-Effekte verbiegen das Spektrum zu dissonanten, teils geräuschhaften Sounds. Moderat eingesetzt sind leichte Schwebungen und Verstimmungen des Klangs möglich. Dies wird primär über das Ändern der Frequenz der Teiltöne erreicht. Sie wirken zumeist zwischen Oszillator- und Filter-Sektion auf den Klang ein. Hinter den Filtern werkeln die Stereo-Effekte, die ebenfalls über das Sine Bank-Modul realisiert sind. Sie stellen Panning-, aber auch Chorus- und Reverb-Effekte bereit. Die Effekte werden dabei separat auf jedes Partial angewendet. Besonderheit: Die Dynamics-Sektion, die eine Reihe von Kompressoren, Limitern und Saturator/Clipper-Effekten enthält, markiert die einzige „richtige“ Effektsektion. Sie dient primär zum Verdichten oder zum nachhaltigen Anschmutzen des Sounds bis hin zu derben Verzerrungen und steht als letztes Modul quasi vor dem Gesamtlautstärke-Regler. Doch das ist noch nicht alles. Die beiden Funktionen „Spectral Clip“ und „Safe Bass“ üben weiteren Einfluss auf den Gesamtklang aus. Sie stehen in der Signalkette zwischen Filter- und Stereo-Effekt-Sektion und nehmen noch einmal Einfluss auf das Sine Bank-Modul. Primäre Aufgabe des Spectral Clip-Moduls ist es, Signalspitzen auszufiltern, um den Gesamtklang in der Amplitude zu zähmen. Dabei wirkt die Spectral Clip sowohl wie ein Limiter durch Setzen des Threshold-Levels, als auch wie ein Tiefpass-Filter durch Einsatz des Slope-Parameters, der hohe Teilspektren ausblendet. Die Safe Bass-Funktion ist hingegen eine Art Verstärker für die tiefen Teiltöne. Droht je nach Einstellung von Filter, Oszillator und Dissonance-Effekt sich die hörbare Tonhöhe zu verringern, schafft Safe Bass Abhilfe durch Einrechnen eines Sägezahn-Spektrums in den unteren Bereichen des Teiltonspektrums. In Sachen Modulatoren offeriert Razor das übliche Repertoire, das jedoch durch einige Besonderheiten erweitert wird. Drei ADSR-Hüllkurven stehen zur Auswahl, wobei die erste fest auf die Lautstärke geroutet ist. Einzigartig: Die Hüllkurven lassen sich mit einem Echo versehen, das über die gleichnamige Sektion in 16tel-Schritten einstellbar ist. Der Hüllkurvenverlauf wird dabei synchron zum eingestellten Echoverlauf wiederholt neu gestartet und je nach Feedback-Einstellung entsprechend in der Amplitude abgeschwächt. So etwas ist uns bisher noch nicht untergekommen und zeugt von der Genialität der Entwickler, die über diesen Kniff ganz simpel und ohne separates Effekt-Modul ein Delay bereitstellen. Das Repertoire an Modulatoren wird durch zwei LFOs sowie die üblichen Verdächtigen auf MIDI-Ebene (Pitchbend-/Modulationsrad, Keyboard-Tracking, Aftertouch) fortgesetzt. Die Echo-Step-Sektion, die zum Verzögern der Hüllkurven dient, ist darüber hinaus ebenfalls als separater Modulator einsetzbar. Bemerkenswert ist auch der Sidechain-Modulator, mit dessen Hilfe sich zwei Modulatoren verknüpfen lassen, wobei ein Modulator den anderen moduliert und die Möglichkeiten noch einmal erweitert. Modulationsverknüpfungen sind denkbar einfach realisiert: Überall dort wo sich unterhalb eines Reglers ein oder mehrere kleine Kreise finden, sind Modulations-Routings möglich. Ein Klick auf den Kreis lässt ein Menü erscheinen aus dem sich der gewünschte Modulator auswählen lässt, woraufhin die Verknüpfung schon über die Bühne gegangen ist. Die Intensität der Modulation ist anschließend über das Kreiselement einstellbar. Insgesamt ist Razor mit dieser Ausstattung kinderleicht bedienbar. Das Studium des informativen Handbuchs, das momentan lediglich in Englisch vorliegt, gehört aber dennoch zur Pflicht, möchte man die vielen Feinheiten und vor allem die Möglichkeiten von Razor richtig kennen lernen. 

Im Hör- und Praxistest spielt Razor mächtig auf und überzeugt durch einen transparenten und glasklaren Grundsound, der präzise, filigran, luftig und bisweilen sogar zart daherkommt. Wer denkt, dass Razor dabei eher ein Leisetreter ist, der tendenziell dünne Sounds produziert und dem oftmals als kalt umschriebenen digitalen Sound-Ideal frönt, irrt gewaltig. Vielmehr wohnt den Sounds ein gewisser Glanz inne, der ihnen einen Hauch von High-End verleiht. Das Repertoire an mitgelieferten Sounds vermittelt einen äußerst vielseitig einsetzbaren Synthesizer, der sowohl mächtig und voluminös in den Bässen daherkommt, als auch bissige, harsche Klangspektren, wahlweise mit oder ohne derbe Verzerrung produziert. Das Klangbild ist trotz seiner messerscharfen Präzision stets angenehm hörbar. Mehr noch wissen sich die Sounds durch ihre klangliche Reinheit im Mix durchzusetzen, die ihnen das gewisse Etwas verleiht. Razor bietet dabei für jegliche Form elektronischer Musik passende Sounds, seien es knackige Bässe und schneidende Leads für Dancefloor oder Techno, mächtige oder filigrane Flächensounds für Synthie-Pop oder bissige Zerrsounds für Industrial. Sounddesigner im Postproduction-Bereich werden Razor mit seinem Potenzial ebenfalls mit offenen Armen empfangen, denn mit dem Repertoire an Klanggestaltungsmöglichkeiten lässt sich so einiges Neue anstellen, das mit anderen Synthesizern nicht möglich ist. Außer dem Standard-Arsenal an Oszillator-Wellenformen wie etwa Sägezahn oder Pulswelle, wartet Razor mit sehr markanten Wellenspektren auf. Bemerkenswert sind Wellenformen wie etwa „Sync Classic“, „Sync Dissonance“ oder „Primes“, die per Modulation ein Durchfahren des Teiltonspektrums ermöglichen und der Wellenform eine individuelle Lebendigkeit verpasst. Das Highlight ist die „Formant“-Wellenform, die ähnlich der Wavetable-Synthese einen Vorrat an 32 Wellenformen bereitstellt. Schade ist nur, dass sich nicht per Modulation durch die Wellensätze dynamisch fahren lässt, was aber per Automation durchaus möglich ist. Allen Wellenformen gemeinsam ist ein charakteristischer Sound beim Eingriff in die Teiltonspektren, die teils mit Klang- und Tonhöhenänderungen und/oder Phasenverschiebungen ähnlich einem Phaser oder Flanger einhergehen und sie markant prägen. Die Filter stehen in dem nichts nach und warten ebenfalls mit höchst individuellen Klangresultaten auf. Allerdings ist das simulierte Resonanzpfeifen zumeist eher zart ausgeprägt und hört sich mehr wie das Anheben der Lautstärke eines Teils des Soundspektrums an. Dennoch wissen sich Filterarten wie „EQ Decay“ oder „Waterbed“ vom Standard-Repertoire charakteristisch abzusetzen. Erstgenannter Filter erlaubt das Einstellen einer Filterkuve mittels Graphik-EQ der sich beim Spielen einer Note via Decay-Parameter sanft ins Spektrum einfügt. Waterbed simuliert die Wellen-Bewegung von Wasser beim Eintauchen eines Steins und führt eine simultane Filterbewegung ausgehend von einer Center-Frequenz nach oben und unten aus. So etwas hört man nicht alle Tage. Last but not Least wissen auch die Effekte mit einer Klarheit zu punkten, die den Sounds noch einmal nachhaltig schmeichelt. In der Dissonance-Sektion sorgt beispielsweise die String-Funktion für eine Art Pitch-Shifter-Effekt. Der Chorus in der Stereo-Effekt-Sektion klingt sehr fett und ohrenschmeichelnd. Selbst dünn klingenden Spektren verhilft er zu mehr Volumen. Der Hall konzentriert sich hingegen auf das Erzeugen kurzer, kleiner Räume, das jedoch auf eine ganz eigentümliche Art. Unangenehm fauchende oder metallisch klingende Hallfahnen sind Fehlanzeige, vielmehr stellt sich der Hall als subtiler, hauchzarter Effekt vor, der die Klänge niemals verwäscht und sie auf unnachahmliche Art veredelt. 

Fazit

Native Instruments ist mit Razor ein neues Husarenstück gelungen. Für den Preis eines Mittelklasse-Effekts offeriert der Synthesizer einen markant transparenten Sound mit High End Qualitäten, der deutlich teurer klingt. Gleichzeitig fügt der Hersteller dem Thema additive Synthese neue Aspekte hinzu, die teils neuartige Möglichkeiten in der Klanggestaltung offerieren und dabei völlig einfach zu handhaben sind. Razor ist schon jetzt ein ganz heißer Kandidat für unser Editors Choice.  

Erschienen in Ausgabe 05/2011

Preisklasse: Spitzenklasse
Preis: 69 €
Bewertung: sehr gut
Preis/Leistung: sehr gut – überragend