
Musik habe ihren Wert verloren. So klagten viele MusikerInnen in den frühen Tagen der digitalen Transformation. Durch einige aktuelle Entwicklungen erhält sie ihn nun wieder zurück – aber nicht so, wie die meisten sich das gewünscht haben.
von Tobias Fischer
Alle Musik, immer und überall. Das war das Versprechen von Streaming – und es wird inzwischen immer öfter gebrochen. Plattformen wie Apple Music decken nur Bruchteile aller jemals aufgenommenen Musik ab, manche Titel verschwinden von einem Tag auf den anderen und einige der größten Stars nutzen die Verfügbarkeit ihres Katalogs als Druckmittel. Video-Streaming, mit seinem im direkten Vergleich eingeschränkten Angebot und einem extrem zersplitterten Markt, schien lange anderen Gesetzen zu folgen als vergleichbare Musik-Angebote. Inzwischen bewegen sich die beiden immer mehr aufeinander zu. Was passiert, wenn sie aufeinanderprallen? Manche wollen nicht warten, bis es passiert. Die Rückbesinnung auf physische Tonträger und die damit verbundene, nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt über Alben und Singles, mag kein Massenphänomen sein. Doch sie ist real. Nur: Die Labels beeinflussen die Entwicklung zu ihren Gunsten. Und für viele Musikhörer wird das unangenehme Konsequenzen haben.
Die Preise steigen
Dass die Preise für Vinyl sich seit langem steil nach oben bewegen, dürfte hinlänglich bekannt sein. Der EVP für aktuelle Veröffentlichungen beginnt bei knapp 25-30 Euro, was bereits eine stolze Summe für eine einfache und darüber hinaus oftmals schlecht gepresste LP ist. Besonders beliebte Titel liegen in einem noch höheren Segment. Limitierte Varianten von Charli-XCX‘ “Brat” beipsielsweise werden für bis zu 40 Euro angeboten, Janelle Monáes “The Age of Pleasure” kursiert bei manchen Anbietern sogar darüber. Parallel dazu steigt nun auch der Neupreis für CDs teilweise deutlich: 20 Euro sind bei Top-Acts eher die Regel als die Ausnahme und dieser Wert bleibt in der Regel über einen langen Zeitraum stabil. Ganz offensichtlich hat man aus dem Fiasko von Adeles “30” gelernt. Damals hatte Sony monatelang weltweit Presswerke blockiert, um den erwarteten Boom bedienen zu können. Anschließend lagen Millionen Kopien der Scheibe wie Blei in den Läden, fiel die Doppel-LP auf Ramschpreis-Niveau. Heute lassen die Majors manche Titel lieber ausverkaufen als zu viel von ihnen zu pressen und setzen auf farbiges Vinyl oder andere Kaufanreize. Der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. Moderne HörerInnen wollen sämtliche Varianten des neuen Taylor-Swift-Werks – koste es was es wolle.
Woher nehmen ganz normale Leute eigentlich das Geld, mit Partner und Kind $10,000 in ein Taylor-Swift-Konzert zu investieren? Die Antwort scheint eindeutig: Aus dem Ersparten.
Ein weiterer Beleg für die Kaufbereitschaft moderner Fans sind die zunehmend absurderen Deluxe-Ausgaben vieler Alben. “Use Your Illusion” von Guns ´n Roses erschien in einer fast halbmeterdicken Verpackung mit einer dreidimensionalen Darstellung des Covers aus gewellter Hartpappe. Das Objekt war zweifelsfrei beeindruckend, die dafür veranschlagten 500 Euro ließen aber sogar die hartgesottensten Fans schlucken. Noch extravaganter: Die Mega-Deluxe-Edition von John Lennons “Mind Games”. Im Netz finden sich halbstündige Videos, in denen die wenigen Auserwählten, die sich dieses 1.500 Euro teure Sammlerobjekt leisten können, den wie ein überdimensioniertes Puzzle anmutenden Kubus auseinandernehmen. Das Paket beinhaltet Landkarten, Poster, LPs, Blu-rays, CDs, Bücher und Booklets, die teilweise mit einer Schwarzlichtlampe beschienen werden müssen, um versteckte Schichten freizulegen. Wenn alle Exemplare verkauft sind, werden die Nachkommen Lennons alleine mit dieser Extravaganz fast zwei Millionen Euro eingenommen haben. Das belegt: Der Wert von Musik lag immer schon deutlich über seinem Marktniveau.

Jahrzehntelang öffnete sich die Schere zwischen Musik und moderner Kunst immer mehr. Während Gerhard Richter durch seine Gemälde fast schon unsittlich reich wurde, schöpften namhafte Bands, SängerInnen und ProduzentInnen ihr Vermögen vor allem aus außermusikalischen Bereichen: Sponsorship- und Werbedeals, Modelabels oder einer Karriere als SchauspielerIn. Dann aber wurde das Wu-Tang-Clan-Album “Once Upon a Time in Shaolin”, gepresst in einer Auflage von einem einzigen Exemplar, 2015 für zwei Millionen Dollar versteigert. [1] Die Aktion mag nicht beliebig wiederholbar sein, doch sie bewies, dass im richtigen Kontext der Wert eines Albums sich dem eines Kunstobjekt durchaus annähern kann. Die Summe ist vor allem deshalb faszinierend, weil der französische Synthesizer-Pionier Jean-Michel Jarre in den 80ern bereits den selben Gedanken hatte und zum Höhepunkt seiner Bekanntheit die LP “Music for Supermarkets” ebenfalls an den Höchstbietenden versteigerte. Damals aber generierte das Werk umgerechnet nur 22.000 Euro. Die Differenz lässt sich ganz bestimmt auf eine Vielzahl an Faktoren zurückführen. Doch sie belegt, dass Mega-Fans inzwischen bereit sind, für ihre Leidenschaft tiefer denn jemals zuvor in die Tasche zu greifen.

Noch eklatanter ist diese Entwicklung bei Konzerttickets
Noch in den 70ern entsprach der Preis einer Karte ungefähr dem eines Albums. Spätestens seit den frühen 00er-Jahren gewannen Konzerte dann allmählich die Oberhand. Zwischen 2009 und 2019 beschleunigte sich der Trend, bis er in der Post-Corona-Zeit förmlich explodierte. In den USA verdoppelte sich der Durchschnittspreis eines Tickets in den letzten zwei Jahren und steht inzwischen bei Top-Tourneen bei knapp $120. [2] Teilweise sind dafür neue Technologien verantwortlich, welche sich nach Angebot und Nachfrage richten. Diese Werte aber verschleiern sogar noch die nahezu astronomischen Zahlen, welche die absoluten Superstars inzwischen über den traditionellen Verkauf verlangen. In den USA liegen die Tickets für die Eras-Tour von Taylor Swift bei $3000 für die billigsten Ränge und sind damit so teuer, dass es Swifties billiger käme, sie würden sich in einen Flieger nach Paris setzen, zwei Nächte im Hotel schlafen und einen der deutlich günstigeren europäischen Gigs besuchen (obwohl diese mit 300-400 Euro auch nicht gerade als Schnäppchen durchgehen). [3]
Einst ließen sich diese Preise ausschließlich auf die Gier der Veranstalter zurückführen. Inzwischen nehmen viele der Stars alles mit, was sie bekommen können – eine Strategie, die angesichts der Geschwindigkeit, mit der man vom Gipfel der Beliebtheit in ein Tal der Belanglosigkeit stürzen kann, durchaus nachvollziehbar ist. Sogar ehemalige Prinzipienreiter werfen letzte moralische Bedenken über Bord. In den 90ern kämpfte die Grunge-Formation Pearl Jam noch für die Rechte der arbeitenden Klasse und probte den Aufstand gegen das allmächtige Ticketnation. Pearl Jam gingen letztendlich gestärkt wenngleich nicht als Sieger aus dem Machtkampf hervor, doch die Oligopolmacht der Giganten blieb ungebrochen. Heute bietet die Band genau wie alle anderen ihre Tickets zu den üblichen horrenden Preisen an und zieht damit mit dem ehemaligen Mäzen der kleinen Leute Bruce Springsteen gleich, der ebenfalls jahrzehntelang seine Konzerte einigermaßen bezahlbar gehalten hatte.
Die Besucher bleiben aus
Diese Entwicklung wirft die Frage auf, woher ganz normale Leute eigentlich das Geld hernehmen, mit Partner und Kind $10,000 in ein Taylor-Swift-Konzert zu investieren. Die Antwort scheint eindeutig: Aus dem Ersparten. Denn immer mehr häufen sich in den letzten Monaten die Meldungen von abgesagten Tourneen oder schleppenden Ticketverkäufen, weil sich kaum noch jemand den Konzertbesuch leisten kann. Die Nachfrage für Charli XCX und Jennifer Lopez blieb trotz Millionen Anhängern in den sozialen Netzwerken und breiter unterstützender Berichterstattung deutlich hinter den Erwartungen zurück. Das vor allem in den USA gefeierte Blues-Rock-Duo Black Keys musste sämtliche US-Termine von Stadien in kleinere Clubs umskalieren. [4] Wer heute nach Karten sucht, kann oftmals frei wählen, weil sogar wenige Wochen vor dem Ereignis noch nahezu das gesamte Kontingent verfügbar ist. Auch hier greift die dynamische Preisbildung und so freuen sich inzwischen immer mehr Fans über unerwartet billige Live-Events vor nahezu leeren Hallen. Leidtragende sind vor allem die Bands und KünstlerInnen unterhalb der Superstarkategorie. Angesichts der Inflation und der gängigen Praxis vieler Locations, sich an den Merchandising-Einnahmen signifikant zu beteiligen, lohnt es sich nicht einmal für eine große Gruppe wie Animal Collective durch Europa zu touren. Man käme, so die Band, nicht ohne desaströse Verluste aus der Aktion heraus. [5]
Man könnte all dies mit einem Achselzucken abtun. Nicht jeder kann Beyoncé live erleben – daran geht, man möchte es zumindest hoffen, die Welt nicht zugrunde. Etwas breiter betrachtet aber bahnt sich eine Situation an, in der viele Acts nicht mehr touren können, die Konzerte der Großen zu teuer werden und physische Tonträger zu einem Luxus-Objekt werden. Darüber hinaus darf sich keiner auf Streaming als einen sicheren Hafen verlassen. Die monatliche Gebühr für die meisten Plattformen ist zuletzt deutlich gestiegen, das Teilen von Konten wird strenger kontrolliert. Gäbe es bei Spotify und Youtube keine kostenlosen Einsteiger-Levels wäre es schon heute vielen Musikfans unmöglich, auf ihre liebste Musik zuzugreifen. Dieses Szenario mag wie eine Horrorvision klingen. Doch liegt sie nur einen Knopfdruck entfernt.
[1] www.nytimes.com/2024/06/13/arts/music/wu-tang-clan-once-upon-a-time-in-shaolin.html [2] www.apolloacademy.com/sharp-increase-in-the-costs-of-going-to-music-concerts-after-the-pandemic/ [3] www.billboard.com/business/touring/taylor-swift-eras-tour-tickets-cheaper-europe-1235671760/ [4] www.stereogum.com/2267170/arena-tour-ticket-sales-black-keys-jlo/columns/sounding-board/ [5] www.theguardian.com/music/2022/oct/28/youre-doing-it-purely-for-the-exposure-why-many-musicians-can-no-longer-afford-to-tour